“Gefährlich”, dachte Dembowski, “wird es für den Fußball doch dann, wenn die Zahl der permanent unzufriedenen Fans die der gelegentlich zufriedenen signifikant übersteigt.“ Dieser Punkt war längst erreicht, dachte Dembowski und dachte an einige Vorfälle seit Anfang März. War ja nicht ohne damals.

Es ging um Hopp, es ging um die Frage, wem der Fußball gehört. Es ging um mehr als ein paar Gesänge. Dann kam Corona und mit dem Virus geriet das Spiel direkt in das Auge des Orkans. Im Stillstand riss man sich erst zusammen. Die Liga organisierte den Neustart. Es gelang ihr. Unter dem tosenden Applaus einer weltweiten Öffentlichkeit. Die Fans organisierten Hilfe für die, deren Leben vom Virus aus der Bahn geworfen wurden. Auch sie erschienen nun in einem anderen, bis dato weniger bekannten Licht.

Damals also bestand noch Hoffnung auf eine Gedankenumkehr im Fußball, so sahen sich ein paar Monate später alle die bestätigt, die hinter den vollmundigen Ankündigungen von mehr Demut nichts als hohle Worte vermutet hatten. Die Protagonisten des Spiels führten einfach weiter ihr Bauerntheater vor.

Einige Vereine rannten in Sackgassen, während sie ihr Überleben organisierten. In Berlin forderte man die sofortige und bedingungslose Rückkehr aller Fans, die in Köln jedoch nur erwünscht waren, wenn sie ihrem Verein ihr Geld in den Rachen stopften. Wer sich das nicht leisten konnte, würde vorerst keine Spiele mehr besuchen dürfen.

Die neue Demut der Bayern zeigte sich durch eine Abkehr von der bisherigen Transferphilosophie. Sie nutzten den zusammenbrechenden Markt, um als einer der wenigen kapitalstarken Vereine ihre Bedingungen zu zementieren.

Die Dortmunder bemühten sich derweil die Fassade eines europäischen Spitzenvereins aufrechtzuerhalten. So recht gelingen wollte ihnen das nicht. Sie schielten nach Manchester, die mit ihren 120 Millionen den BVB erlösen sollten. Sie schrieben monatlich Verluste in Millionenhöhe. Anderen Vereinen ging es ähnlich.

Auf Schalke passierte etwas. Tönnies verabschiedete sich aus dem Amt, doch sein System bestand weiter. Sein Rücktritt traf die sich gerade erst formierende Opposition unvorbereitet, und verlängerte das System Tönnies nur. Mit der wahrscheinlichen Rückkehr der sportlichen Krise im September würden sich die Verantwortlichen retten.

Die Spieler gingen weiter ihrem Job nach. Manche sangen im Urlaub Lieder und andere trugen Trikots eines Lokalrivalen. Manch einer saß es aus, andere mussten sich entschuldigen. Die Maßstäbe waren verrutscht.

Wieder andere interpretierten die Krise als Chance und forderten mehr Geld für neue Verträge. Reduzierten sich ihre weiterhin deutlich im fünfstelligen Bereich befindlichen Bezüge um eine Handvoll Euro, so wurden sie zu Helden des Alltags.

In Europa verhöhnte Pep Guardiola mit einem Lachen, alle die, die zumindest noch an wenig Gerechtigkeit geglaubt hatten. Dem unpolitischen katalanischen Freiheitskämpfer ging es um sein persönliches Fortkommen. Es ging nicht in erster Linie um die Liebe zum Spiel.

Es gab auch Momente. McKennie, Thuram, Hakimi und Sancho trugen die Black Lives Matter-Bewegung mit ihren Protesten in die leeren Stadien und reflektieren sie über die Macht der Bilder zurück in alle Ecken der Erde. Für eine kurze Zeit setzte der Fußball seine Macht ein, aber bald schon wurde aus einer Bewegung ein Hashtag. Noch einmal Blackout auf Instagram. Dann hatten alle ihre Pflicht getan.

Rummenigge, Hopp und die angeschlossenen Medien gelang dann der Brückenschlag zu den Ereignissen vor der Krise, als die Neuinterpretation des 3-Stufen-Plans beinahe für einen Spielabbruch in Hoffenheim sorgte. Der Stillstand war nun überwunden, jetzt ging es endgültig um eine Neuverteilung des Fußballs. Den von den selbsternannten Eliten als sogenannte Fans bezeichneten Zuschauern sollte in Zukunft der Stadionbesuch nicht nur durch neue Überwachungsmöglichkeiten erschwert werden, ihnen sollte auch jedwede Lust auf das Spiel genommen werden. Sie waren aktuell nicht da und sie sollten auch nicht mehr wiederkommen.

Kurzum: Die Inszenierung des Fußballs hatte sich längst von der Realität der Masse verabschiedet. Mit jedem neuen Tag gab es neue Empörungsangebote, die ins Meer der Netzwerke gespült wurden und sich dort zu einer toxisch-blubbernden Brühe vermischten. Zur Entfremdung mischte sich Demütigung.

„Den Fans“, sagte Dembowski im Soldiner Eck trinkend, „bleibt nur noch eine Möglichkeit: Sie müssen sich erheben und das Produkt entwerten.“

„Ist das eine Aufforderung zur Gewalt?“, fragte Justin Hagenberg-Scholz empört und Dembowski antwortete: „Natürlich nicht. Ich denke nur nach. Ich sehe überall nur Verlierer und keine Gewinner. Das ist gefährlich.“