Alles lief perfekt. Lucien blieb beharrlich bei seiner Version der Geschichte. „Alle haben gedacht, dass es vorbei ist“, hielt er noch am Freitag den paar verbliebenen Presseleuten im Übergangsraum am Dortmunder Trainingszentrum vor.
Die Woche über hatten die üblichen Medien auf den Schweizer Übungsleiter eingedroschen. Er war, glaubte ich den allerlautesten Blättern, eigentlich schon entlassen. Der Tenor war klar: Holst Du Dir Favre ins Haus, solltest Du erst überhaupt nicht hoffen, sondern ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.
Auch in Dortmund war es ihm gelungen, einen ganzen Verein am süßen Duft des vermeintlichen Erfolges schnuppern zu lassen. Um ihn dann, innerhalb weniger Monate, an den Rand einer existenziellen Krise zu bringen. Der Duft des Erfolgens wurde zu dem eines angekündigten Scheiterns. Favre war ein Verführer, ein Betrüger, jemand, dem Du nichts anvertrauen wolltest, schon gar nicht das kostbarste Gut: Deine Hoffnung!
Aber die Dortmunder hatten es trotzdem getan. Erst zögerlich, nach dem Sieg gegen die Bayern aber gab es kein Halten mehr. Der BVB war da und die Bayern schwächelten. Dazu der glorreiche Zusammenbruch der Nachbarn aus Gelsenkirchen. Aus dem Zauderer wurde der Zauberer. Favre hatte aus seinen Fehlern gelernt. Wirklich! Alle schwörten!
Neun Punkte vor. Der Meistertitel nur noch eine Frage der Zeit und natürlich die große Frage, ob man ihn bis zum Derby im Westfalenstadion überhaupt verhindern konnte. Wenn schon die perfekte Saison, dann bitte mit dem größtmöglichen Aufschlag beim Weltuntergang der Blauen. Der Verein predigte da noch halbherzig, dass man von Spiel zu Spiel denke müsse. Es kam nicht an. Weil es darum nicht ging, sondern um den großen Traum.
So ließen sich auch die ersten Rückschläge noch überraschend gut verkraften. Das Ziel war in weiter Ferne und mit jedem Punktverlust rückte es, auch wenn es paradox klang, näher. Die Bayern würden scheitern. Wenn sie erstmal gegen Liverpool ausgeschieden waren, wenn sie erstmal keine Ziele mehr hatten und auf Selbstzerstörung schalteten.
Doch es ging dahin. Ein Unentschieden in Nürnberg, der Kollaps gegen Hoffenheim, das Aus im Pokal, das Aus in der Champions League, die Niederlage in Augsburg. Immer mehr brach zusammen.
Doch die Blauen blieben auf Kurs, die Meisterschaft war weiter fest eingeplant. Zumindest bei mir. Zweifel wollte ich mir nicht erlauben. Es ging um die historische Chance. Deswegen musste ich nicht darüber nachdenken, wie ich mit einem Scheitern umgehen würde. Überhaupt: Wenn man Scheitern lernen konnte, dann wäre ich als Ermittler und BVB-Fan mittlerweile ganz weit vorne.
Das mit der Meisterschaft kam dann anders und natürlich im Derby. So kam überhaupt erst zu meinem Anruf bei Favre. Die letzte Chance im Kampf gegen die übermächtigen Bayern. Die letzte Chance, nicht über das Scheitern nachzudenken. Weil die Schmerzen sich durch die Niederlage gegen Schalke potenzieren würden. Wie sollte ich das aushalten? Wie sollten das die Dortmunder Fans aushalten? Favre hatte sie verführt und riss sie nun in den Abgrund. Was nicht seine Schuld war. Die Mannschaft wurde lange Zeit auf einer Welle durch die Saison getragen. Doch es war nicht genug.
Daher ging es in den letzten Spielen um mehr als die Meisterschaft. Sie würden den Weg des Vereins auf Jahre bestimmen. Es würde sich wieder die Frage stellen: Wofür steht dieser Klub, der so oft an seinem Größenwahn gescheitert war.
Beim Spagat zwischen Borsigplatz und Shanghai hatte er sich in die Rolle des ewigen Underdogs pressen lassen. Das internationale Bild der Borussia hatte auf die Heimat abgefärbt. Der BVB war größer als 16 Bundesligisten und kleiner als die Bayern. Das tat ihm nicht gut. Der BVB kokettierte mit der Super League und wenn man in Shanghai war, dachte man an den Borsigplatz und wenn man am Borsigplatz war, träumte man vom Weltruhm.
Das war die Situation vor dem Bremen-Spiel.
„Es war nicht geplant, dass Bayern nur ein Unentschieden macht in Nürnberg. Jetzt ist wieder alles möglich. Alle haben das gedacht. Nicht nur ich“, erklärte Favre also auf der freitäglichen Pressekonferenz. Die Lüge wollte ich ihm verzeihen. Immerhin hatte er mich nicht verraten.
Gegen maßlose überschätzte Bremer ging es am Samstag dann nur um eine lästige Pflichtaufgabe. Kohfeldt, der Trainer der Saison, hatte sich an der Weser nun zwar schon länger als seine zahlreichen Vorgänger gehalten, in den internationalen Fußball würde er Werder aber auch nicht führen. Er war kein neuer Schaaf, kein neuer Rehhagel, sondern nur eine weitere Variante des Scheiterns, ein weiterer Tedesco.
„Einer für unseren Verein“, raunte sich die Mittelklasse des deutschen Fußballs zu. Vergas dabei naturgemäß das Kohfeldts in der Ferne bereits absehbares Ende in Bremen auch das Ende seiner Ambitionen als Spitzentrainer war.
Die frühe Dortmunder Führung durch Captain America war daher kein Wunder. Und so sah ich mich auf der Farm sitzend schon bald mehr mit den Kranichen beschäftigend. Das Spiel würde normal laufen. Und danach würde der BVB in den letzten beiden Spielen gegen Düsseldorf und Gladbach seine Titelfähigkeit unter Beweis stellen.
Paco traf, ich ging in der Abendsonne eine Runde mit Koi schwimmen und freute mich auf meine Reise in den Westen.
Als ich zurückkam, war alles vorbei. Ich schaute mir die Tore später an. Sah fehlende individuelle Klasse, sah Nervosität und die große Planlosigkeit. Es hatte nicht an Lucien gelegen. Aber es würde auf ihn zurückfallen. Stand er im Dezember noch für die Auferstehung des Vereins, so war er nun das Symbol für den Untergang.
Für den BVB konnte ich nichts mehr tun. Er war gescheitert. Hatte die Meisterschaft je nach Lesart weggeworfen, nicht genug investiert, zu wenig Leidenschaft gezeigt oder aber er würde einfach dort landen, wo man ihn erwartet hatte: Vor dem großen Rest und hinter den großen Bayern.
Ich aber musste über das Scheitern nachdenken, darüber, wie man damit umgeht, gerade, wenn man es doch nicht beeinflussen kann. Klar: Ich war Dietfried Dembowski, mehrfach ausgezeichneter Ermittler, aber ich war auch nur ein kleines Rad im großen Getriebe des Weltfußballs. Meine Einflussmöglichkeiten waren streng limitiert.
Wenn man scheitert, reißt man eine Hürde und rafft sich nicht mehr auf. Das war im Laufe der Saison passiert. Ich hatte in dieser Saison alle Stationen des Scheiterns durchlaufen.
Es beginnt mit der zaghaften Hoffnung, der unendlichen Euphorie, geht über zum Zweifel, die schnell zurückgeschlagen werden. Es ist das Fiebern auf das große Spiel, das jeden Rückschlag umkehren kann und es ist die Verweigerungshaltung die Niederlage zu akzeptieren. Es ist die Selbstüberschätzung, das Vergegenwärtigen der Möglichkeiten, das Rechnen, das Alleswirdgutweilallesgutwerdenmuss, das Hadern mit Schiedsrichtern, Verletzungen, vergebenen Möglichkeiten. Es ist das Ausfälligwerden. Das Verächtlichmachen der Gegner. Es ist der Versuch, etwas final zerstörtes noch einmal zu reparieren.
Und vor allen Dingen ist es okay. Es ist okay zu scheitern. Es ist okay, nicht zu gewinnen. Es schmerzt. Es darf schmerzen. Im Fußball muss nicht alles gut werden. Der Fußball ist eine Erinnerungsindustrie. Der BVB hat eine denkwürdige Saison gespielt. Lucien Favre hatte geliefert. Er war kein Betrüger.
Das, dachte ich ein Schulle trinkend, war schon okay.