Wie sich herausgestellt hatte, war das Oderbruch in Berlin neuerdings der heißeste Scheiß. Erst hatte die Mitte-Bande sich die Uckermark einverleibt und machte sich nun daran, auch das Oderbruch als Accessoire in ihre Wochenendplanung aufzunehmen. Das Oderbruch war der perfekte Get-Away nach einer harten Wochen voller Meetings, Projekte und Deadlines.

Manne, mein neuer Nachbar, hatte mir das erzählt. Manne mochte Schulle. Manne ging auf die Rente zu. Hatte aber noch 2.856 Tage in den Schornsteinfluchten der PCK Raffiniere in Schwedt/Oder zu verrichten. Hatte er, wie er mir bei einem Schulle auf der Farm sagte, „jenau ausjerechnet“ und mir sodann seine Lebensgeschichte erzählt.

In Wilhelmsruh geboren, durch ein Grab auf dem Friedhof Pankow III rübergemacht und in Schmargendorf hängengeblieben. „Aba det uff de normale Seite vonnem Hohenzollern. Nich da, wo die janzen feinen Pinkels wohn“, hatte er gesagt und erklärt, wie es ihn später in das kleine Dorf am Ende der Welt gezogen hatte. Er wollte nicht mehr.

Die Stadt hatte ihn zerstört, und so saß er nun in seinem grauen Häuschen gegenüber des kleinen Weilers und wartete auf das Ende. Es rückte näher.

Ein paar der Besucher aus Mitte wollten an Mannes Häuschen. Und sie hatten die Scheine. Ihre Kompensationszahlungen für den letzten Besuch im Northern Norway Art Museum in Tromsö.

Sie wollten, sagten sie, der Umwelt etwas zurückgeben. Sie hatte ihre Greta gelesen. Und so wollten sie nun auf ins Oderbruch, eine neue Welt schaffen. Mannes Vermieter fand das nicht schlecht. Nicht den Teil mit der neuen Welt. Die würde es nie geben, dachte er. Aber den Teil mit dem Geld mochte er. Manne hatte das nicht.

Manne mochte bald kein Obdach mehr haben, aber er hatte noch die Hertha, erzählte er mir stolz und davon, wie er einmal im Jahr ins Olympiastadion fuhr. Dass sein Oly bald auch verschwinden würde, das wollte er nicht glauben.

Die Hahoherrlichen hatten, wie Manne mir erzählte, Ante Covic zum Trainer gemacht.

„Stehen die vor der Pleite?“, hatte ich gefragt, und Manne geantwortet:

„Geile Entscheidung vom Langen. Transfers kanna eben. Und dann noch n echten Berlina Jungen. Ick erwarte Hertha nächste Saison uff Tschämpjensliehgkurs. Mindestens.“

In seinem Leben hatte Manne schon etliche Schulle getrunken.

Wieso mussten diese Spinner mich immer finden? Wieso wurden sie meine Freunde? Was sagte das über mich aus?

Mir blieb wenig Zeit, mich um diese Fragen zu kümmern. Auch Mannes Visionen mussten warten. Und die, die uns für eine Handvoll Instagram-Stories unsere Häuser rauben wollten, sollten sich anstellen. Wenigstens das! Dafür gab es die Sommerpause.

Ich war im Tunnel. Ich sah das Licht und steuerte drauf zu. War jetzt auch vollkommen egal, worum es sich wirklich handelte. Entweder Aufprall oder Erlösung. Um loszulassen, endlich wegzukommen, etwas anders zu machen, endlich anzukommen. Es blieb nur noch Zeit, um eine Sache zu retten. Was es sein würde? Das hatte ich mir vor Wochen überlegt: Die Saison der Borussia aus Dortmund.

Bis hierher lief alles nach Plan. Der BVB stand vor den letzten beiden Spieltagen mit dem Rücken zur Wand. Sie hatten innerhalb weniger Monate nicht nur die Tabellenführung verspielt, sondern auch den letzten Respekt ihrer Anhänger. Sie waren auf Platz 2 und somit ganz am Ende angekommen. War alles passiert. Das Düsseldorf-Spiel also sollte nun die Wende bringen. Wie bereits im Hinspiel, in dem der beschwerliche Weg hinab begann.

Hatte ich aber den Großteil der Saison den Ballspielverein nur als Beobachter wahrgenommen, war ich nun endlich wieder in meinem Metier. Als Sammer die Flinte ins Korn geschmissen hatte, klingelte mein Telefon. Der Rest würde schon bald Geschichte sein.

Die Niederlage im Derby, das Abschenken der Meisterschaft, der bittere Punktverlust gegen Bremen. Schlechter hätte es nicht laufen können. Der BVB hatte den letzten Optimisten kleinbekommen und doch immer noch eine Meisterchance. Was natürlich in erster Linie mit den Bayern zu tun hatten. Dortmunds Debakel im Derby hatte den Rhythmus des Serienmeisters gebrochen.

Im Gefühl der sichereren Meisterschaft zerlegten die Herren der Führungsriege die Aufbauarbeit der letzten Jahre. Genervt von Spürnasen, die mit Fluchtlichtmasten die dunklen Ecken des Vereins ausleuchteten, mal auf Super-League-Pläne und mal auf zweifelhafte Steuermoral trafen, feuerten sie ihre Kanonen auf Trainer Kovac und die allgemeine Ungerechtigkeit im Fußball ab. Es waren verzweifelte Ausweichmanöver.

Die Bayern sahen längst, was sie nicht sehen wollten, und sie bekamen, was sie alle nicht wollten: Eine handfeste, weit über das sportliche hinausgehende Krise zum denkbar ungünstigsten Saisonzeitpunkt.

So sehr ich es mir auch wünschte: Diesen Erfolg konnte mich mir kaum auf meine Fahnen schreiben. Es war Favres Verdienst. Er hatte längst eingesehen, dass der BVB die Bayern aufs eigene Niveau runterziehen musste. Kompliziert, so kompliziert. Es ging um die Macht der Worte und um die Lethargie, die diese auslösen konnten. Es lief.

Für mich war es an der Zeit, direkt Einfluss zu nehmen. Runter in den Pott. Sicherstellen, dass Favre dem Script auch folgte. Bei ihm wusste man nie. Als ich aufbrach, schrieb Sammer, der in seiner Rolle als neutraler Berater von Woche zu Woche eine schlechtere Figur abgab, den BVB ab. Man habe die Meisterschaft hergeschenkt, erklärte er unter großem Applaus der wissenden Zuschauer.

Mich schockierte die Apathie, die Gleichgültigkeit, mit der eine ganze Stadt gewillt war, die doch eigentlich sichere Meisterschaft wegzuschmeißen. Als wäre es eine Chance, die jemals wiederkehren würde. Sie hatten vergessen, wie es sich anfühlte, etwas zu gewinnen. Sie hatten vergessen, wie es war, für einen großen Erfolg zu kämpfen.

Wäre vermessen gewesen, denen das zu erklären. Sie würden es schon sehen.

Perfekter Spieltag dann. Breitzke auf dem Platz. Konnte sein Glück nicht fassen. Noch einmal vor der Süd stehen. Noch einmal spüren, was war. Ein wunderbarer Moment. Der Amerikaner geht. Für zu viel Geld. Er weint trotzdem. Weil er erst 20 ist. Weil er merkt, dass etwas endet.

Die Geschichte, die der Fußball dann schreibt, muss so kommen. Pulisic trifft in die Pfiffe der Hoffnungslosigkeit. Die wilden Minuten nach der Pause. Ausgleich, Führung der Münchener, erneute Führung, Videobeweis gegen München, Elfmeter, verschossen. Danach trudelt es aus. Hier noch ein Tor, da noch ein Tor. Unentschieden in Leipzig. Auf die Hilfe wollte ich nicht angewiesen sein.

Danach Kriegsgeheul aus zweifelnden Mündern. Der Druck jetzt auf München. Brazzo sieht das das anders. Ist aber machtlos. Der Meisterschaftskampf, der weiter keiner ist. Weil auch Frankfurt verliert. Die bekommen nichts mehr auf die Reihe. In der Allianz Arena werden die Weißbiergläser bereitgestellt. Es geht um den großen Abschied für Ribery und Robben, der das letzte Finale dahoam im Alleingang versiebte. Erfolg frisst Erinnerung.

Ihr Narren, sollte man rufen. Aber dann würden sie es merken.

Zurück auf der Farm, erreicht mich die Nachricht vom Tod Doris Days.

Die Borussia war wieder da. Deutscher Meister in diesem Jahr.

Gute Zeiten. Hatte ich nichts gegen einzuwenden.