Es war bereits weit nach Mitternacht als Justin Hagenberg-Scholz kurz hinter Uhrsleben auf ein youtube-Video stieß. „Schau Dir das mal an, Dembo!“, sagte er.

Der Ermittler sah Piotr vor einem Green Screen. Tauben ziehen über das Land hinter ihm. Die Kamera krallt sich eine Taube. Sanfte, rollende Hügel. Kahle Felder. Ein Schloss. Ein Schornstein. Leichter Regen. Das Land ist grau. Die Kamera zoomt auf ein Straßenschild. Dazwischen immer wieder kurze Schnitte auf ein ZDF-Interview. Eine Zeitung liegt auf der Straße. Die Taube ist nicht mehr. Zwei andere saßen in einem Käfig.

„Der Wagner-Wahnsinn: Hoeneß-Nachfolger muss liefern“, steht dort geschrieben. Es ist der 1. März 2021. Genau ein Jahr nach den Unruhen im Sinsheimer Palast.

Der letzte August-Tag 2020 hatte doch so ruhig begonnen.

Die Sonne hing lethargisch über der Prinzenallee. Den Sommer über hatte sie alles für unser Wohlbefinden getan. Nun war sie erschöpft, ihre Kräfte ließen nach. Dembowski saß mit Rottenberg und JHS vor dem Soldiner Eck. Der Ermittler trank Schulle, die beiden Forscher hielten sich an ihrem KiBa fest. Im Eck gab die Jukebox alles. Gerade nölte sich DvL durch sein Frühwerk. Er wünschte, er würde sich für Tennis interessieren.

Hagenberg-Scholz fand das passend. Für ihn begann mit den US Open die schlimmste Zeit des Jahres. Er würde keinen Schlaf mehr finden und jeden Ballwechsel genau analysieren. Fußball war sein Beruf, doch Tennis seine Leidenschaft.

Mitleidig blickte er auf Rottenberg und Dembowski, die wieder einmal über die Auswirkungen der Pandemie diskutierten. Sie hatten nur noch dieses Thema. Was würde das für die Zukunft des Fußballs bedeuten? Würden die Fans jemals zurückkehren und was überhaupt hatten sie dann noch in den Stadien zu suchen?

Die Lage kurz vor Saisonbeginn war erschreckend unklar. Der Fußball hatte den Menschen im Mai die Hoffnung zurückgeben müssen. Das war der kleinste gemeinsame Nenner aller. Doch den Sommer über war ein Sättigungsprozess eingetreten. Es gab keine Pause mehr und es würde keine Pause mehr geben.

Der Fußball war nun Spielball der Pandemie. Er bewegte sich in einem System, das keine Antworten auf die Bedrohungen hatte. Er wartete, wie alle anderen, vergeblich auf den Impfstoff, den ein alter weißer Mann vor langer Zeit für den Herbst versprochen hatte. Doch der Sommer war gegangen und nichts hatte sich verändert. Dembowski bekam sich gar nicht mehr ein.

„Hopp, rück den Impfstoff raus“, schimpfte er und Pollard sang „when you motor away!“ und Hagenberg-Scholz beruhigte ihn und eine Brieftaube ließ sich auf dem Schulle nieder. „Mistvieh. Hau ab!“, rief Dembowski, aber Rottenberg erkannte die Situation. Er griff nach dem Zettel und fingerte aus seiner Tasche ein paar Sonnenblumenkerne und eine grüne Paste. „Erbsenmehlpaste. Die lieben das.“ Die Taube pickte begeisterte. Auf dem Zettel stand: „WS s 74. SO, UR. T. Piotr.“

„JHS, fahr den Wagen vor“, rief Dembowski. Er musste jetzt handeln. Irgendwas passierte in Dortmund. Piotr rief ihn nicht ohne Grund. Der Ermittler stürzte in den Keller, schleppte ein paar Kisten Schulle an und wartete auf JHS.

„Rottenberg fährt. Du suchst mir alles über Tauben raus.“

„Tauben?“

„Natürlich. Die kam direkt aus Dortmund. Das könnte der Durchbruch sein!“

„Durchbruch? Dembowski. Was ist los?“

„Der Herbst ist los. Der Impfstoff. JHS, ich bitte Dich! Du bist doch sonst so ein Datenfuchs. Du musst nur 1+1 zusammenzählen.“

Es war bereits weit nach Mitternacht als Hagenberg-Scholz auf das Video stieß. Aus der Ferne erkannten sie bereits die Lichter der alten Zonengrenze. Sie schauten es, sahen Piotr in der Zukunft und wussten, dass sie bis zum Morgengrauen in Dortmund sein mussten. Rottenberg fuhr. JHS und Dembowski schliefen.

Dortmund erreichten sie in der Morgendämmerung. Die Sonne stand tief hinter ihnen als sie auf dem Westfalendamm an den alten Versicherungsbauten vorbeifuhren und hinter der Geschäftsstelle der Borussia in Richtung Stadion abbogen. Jetzt musste es alles ganz schnell gehen.

Als sie vom Schwimmbad kommend über den Zaun stiegen, sahen sie zwei ergraute Männer aus dem Stadion eilen. Sie hielten eine Flasche in der Hand, etwas fiel auf die Erde. Und als sie Dembowski sahen, rannten sie um ihr Leben. Sie hätten es geben müssen, doch die Ermittler waren nicht an den älteren Herren interessiert. Sie schnappten sich den Deckel. „Colvac RP“ stand dort geschrieben.

Piotrs Anweisungen waren eindeutig gewesen und so begaben sich Rottenberg, JHS und Dembowski zur Südosteck. Sie traute ihren Augen nicht. Zwei Tauben verkümmerten in einem kleinen Käfig. Sie waren matt.

„Das ist bislang nur in der Tschechischen Republik zugelassen“, raunte JHS. „Mit Colvac machste nix richtig.“ Erst jetzt sahen sie die über das gesamte Stadion verteilten Taubenkäfige. Je zwei Vögel machten es sich dort bequem.

„Verdammt. Sie züchten die Teile hier“, stieß Dembowski auf. Schon seit Jahren hatten die Dortmunder mit den Tauben im Stadion zu kämpfen, doch diese hier war die nächste Stufe der Eskalation. „Das waren Dietmar und Kalle. Ich bin mir sicher“, sagte Rottenberg. „Die habe ich mal bei einem Event getroffen. Feine Kerle. Die an ein zuschauerloses Stadion glauben.“

„Und das wollen sie hier jetzt auch durchziehen! Colvac ist das Gegengift zum Impfstoff. Hopp hat den angekündigt. Es ist Herbst. Was der hier macht, das ist doch nur noch verrückt. Er will, dass die Tauben auf die Dortmunder Fans scheißen und ihnen der Impfstoff nichts helfen wird.“

„Sie werden die Stadien wieder öffnen. Sie werden die Dortmunder in eine Falle laufen lassen. Das ist nur noch irre. Das können Menschen Menschen nicht antun.“

“Es sind Ultras. Ob das Menschen sind, das sei mal dahingestellt. Aber auch Familien gehen ins Stadion. Ich kann Deinen Punkt sehen, Dietfried”, sagte Rottenberg.

JHS handelte und ließ Dembowski und Rottenberg reden. Eine Stunde später fuhr ein großer Laster vor. Der Datenfuchs sammelte die Käfige ein.

„Die gehen nach Zuzenhausen“, sagte er. „Und damit ist die Zukunft wieder unsere Zukunft.“

Auf den Stufen der Ost verschwand ein Schatten. Aus dem Himmel schwebten Flugblätter auf ins Stadion.

„Unsere Vergangenheit ist Eure Zukunft ist unsere Gegenwart.“

Die Konstrukteure waren zurück. Alles würde gut werden.