Ich weiß gar nicht mehr, wo ich war oder wie spät es war. Aber Justin rief an, also war es früh.

Seit Tagen hing ein Grauschleier über der Stadt. Die Abwesenheit der Sonne machte mich fertig. Aus Menschen wurden Geister. Und aus mir wieder einmal ein Trinker. Ich stieg hinab in die Unterwelt. Ich hatte mir ein Wochenticket für die BVG gekauft, und war ziellos zwischen den Orten. Ich mied die Endbahnhöfe, und die Zwischenbahnhöfe, an denen aus der U-Bahn eine Hochbahn wurde. Es war meine planerische Meisterleistung.

Für mich gab es kein Tag, und keine Nacht. Ich ernährte mich von dem, was in den Schächten angeboten wurde. Ich schlief, wann immer mir die Augen zufielen. Ich wachte auf, steuerte den Alexanderplatz an, bewegte mich auf der Mittelebene, trank einen Kaffee, schnappte mir ein Croissant, und einen neuen Schulle-Träger. Manchmal lasen die Menschen Zeitungen, dann begann der Tag, und manchmal tranken sie Bier und grölten. Dann war es Nacht. Hin und wieder belauschte ich die WhatsApp-Konversationen der aufgeregten Teenager, doch meist waren Halma mein Soundtrack. Sie umschlossen meinen Ohren.

Hier unten fühlte ich mich sicher. Seit einigen Tagen herrschte dort oben Krieg. Das entnahm ich dem Berliner Fenster und den gesenkten Köpfen der Mitreisenden. Hier war ich sicher. Hier war ich in meiner Kapsel, in meinem Schutzraum. Ich sprach kein Wort, und dachte kein Wort. Ich war die U-Bahn, die durch die Dunkelheit schoss. Ich war die U-Bahn, die Menschen aufnahm und sie an ihre Bestimmungsorte transportierte. Hier war ich sicher. Und irgendwo zwischen Nauener Platz und Westhafen erfuhr ich vom 2:1 Sieg der Dortmunder.

Ich fuhr weiter durch die ewige Nacht. Ich war nicht mehr müde. Wenn ich schlief, dann nur für Minuten. Und wenn ich wachte, dann für Stunden. Ich hörte Halma, und ich trank Kaffee, und ich hörte Halma und trank Bier. Ich war die U-Bahn, die diese Stadt am Leben hielt, und ich war die U-Bahn, die mich am Leben hielt. Das Berliner Fenster berichtete vom Isak-Transfer und der Pulisic-Verlängerung. Es sah gut aus für den Ballspielverein. Immerhin. Das würde den Krieg erträglicher machen.


Ich weiß gar nicht mehr, wo ich war oder wie spät es war. Aber Justin rief an, also war es früh. Hagenberg-Scholz arbeitete jetzt 24/7. Er liebte den Geruch der frischen Zeitungsbündel, und er verbrachte Nächte damit, die Remittenden vorzubereiten. Er hatte sich sein eigenes Reich geschaffen. „Alles ist besser als das Wärterhäuschen“, hatte er einmal zu mir gesagt. Sogar seinen Kunden konnte er etwas abgewinnen.

Manchmal, wenn Zeit war, diskutierte er die neuesten Drohnengesetze. Er überlegte, ein Drohnenaktivist zu werden. Und er feilte an seinen Analysen. Manchmal, das erfreute ihn, kam Berenice Hagenberg-Scholz vorbei. Mal brachte sie Käsekuchen, mal frischen Endivien-Salat. Den mochte er. Dazu trank er einen Smoothie. Es war gut jetzt. RaRa lebte in den Herzen der Hagenberg-Scholzens weiter. Immer wenn er Leipzig sah, vergoss er eine Träne. Aber sonst: Ja, alles war gut.

Irgendwann wollte er Schill einen Sky-Anschluß abschwatzen, bis dahin streamte er alte Spiele über den kleinen Überwachungsmonitor. Dann saß er dort mit seiner Brille, seinen Unterlagen, seinen Handbüchern, und natürlich seinem Setup. Er würde vielleicht nicht die Welt erobern, aber er es zumindest den Amateuren bei miasanrot zeigen.

Klar, sie hatten ihm eine Chance gegeben, doch die hatte er auch beim DID bekommen. Im Herzen, aber das hatte er sich noch nie auszusprechen getraut, blieb er Schalker. Er litt mit den Königsblauen. Eines Tages wollte er die Schalker Meile besuchen. Für ihn war sie das achte Weltwunder. Aber wie konnte er es mir vermitteln? Wie sollte er es Schill erklären? Ihm war nicht bewusst, dass wir ihm längst auf die Schliche gekommen waren.

Aber das war jetzt egal. Das hörte ich aus Justins Stimme. Er sorgte sich. Ich war jetzt auch in voller Sorge. Justin hatte eigentlich sein „Mitte-der-Probezeit-Gespräch“ bei miasanrot, und seit Wochen davon erzählt.  Aber darum ging es jetzt nicht.

„Dietfried. Es ist was passiert.“

Ich war längst aus der Bahn gestiegen. Friedrichstraße. Aus der U6, ich liebte die Linie, da sie kaum an die Oberfläche drang, war ich auf die Mittelebene gelangt. Menschen hasteten an mir vorbei. In einer Ecke rollte jemand seinen Schlafsack zusammen. Ich schmiss ihm ein paar Euro nach.

„Was ist denn los?“

Ich hatte jetzt sicher eine Woche nicht mehr gesprochen. Mein Hals kratzte. Hastig zündete ich mir eine Kippe an, schnappte mir mit einem Blick einen Kaffee, sie kannten mich, und wartete. Doch Justin atmete nur schwer.

„Machtkampf in Dortmund, Dietfried. Niemand redet mit Tuchel. Er wird nicht mehr informiert. Steht alles in der SportBild.“

Mein Blick wanderte über die Auslage. Es gab noch einen Kaffee. Ich ging zurück. Der Typ mit dem Schlafsack war noch da. Er stand dort. Seine Schuhe zerfleddert, mit leeren Augen blickte er mich an. Ich drückte ihm den Kaffee in die Hand. Ich musste überlegen. Zeit gewinnen.

„Ruf Miriam an. Ruf Schill an. Das ist ein Notfall. Wenn die nicht mehr reden, dann Gnade uns Gott!“

„Ist es wirklich so schlimm?“

„Ist draußen Licht?“

„Nein. Alles ist schwarz, und wenn es nicht schwarz ist, dann ist es grau. Die Menschen sind Geister.“

Ich atmete auf. Es würde mir das Auftauchen erinnern. Nach Luft schnappen, wie Koi es mir gelehrt hatte. Ich würde es schaffen.

„Justin! Ich bin in 30 Minuten da. Ruf Schill und Miriam an.“


Eine Stunde später rannte ich die Treppen der Eberswalder runter. Es war dunkel. Der Verkehr rauschte über die Kreuzung, ein Tram schoss an mir vorbei. Ich drängte mich durch die Morgenpendler und Nachtschwärmer. Jemand fiel die Treppe hinunter. Er hatte nicht aufgepasst, fluchte im Sturz. Ich würdigte seine Aufregung nicht. Dort standen Justin, Miriam und Hauke. Sie wirkten besorgt, besorgter als ich es erwartet hatte.

„Wer bringt mich up to speed?“

Miriam wagte es. Sie erzählte von einem einsamen Trainer, der abends Gin Tonic schlürfend am Rande der Tanzfläche stand, in der anderen Hand eine Büchse Erdnüsse. „Die Gesalzenen“, betonte die Wu, und schaute mich entgeistert an.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Lass sie doch ausreden!“

„Was wirste gleich so patzig, Schill?“

„Dietfried, komm runter. Hör einfach zu.“

So kannte ich Justin nicht.

Wu redete weiter. Sie schilderte die wahrscheinlich größte Krise der Vereinsgeschichte. Ihre Erzählung stellte alles in den Schatten, sogar die Beinahe-Insolvenz von 2005.

„….wenn Watzke nicht aufpasst, ist der BVB bald Geschichte. Sie verbrennen die große Trainer-Hoffnung. Er ist eloquent, er ist modern, er kann Laptop, aber er kann auch Emotionen. Auf seine eigene Art. Er macht sich rar, somit umso wertvoller. Borussia verheizt ihn. Die DFL, so hört man, is not amused. Es geht um die Internationalisierung, das große Geschäft, um die Machposition innerhalb der UEFA, der ECA natürlich auch. Es geht um Tuchel. Der hat im Ausland die höchsten Sympathiewerte. Er ist eine Marke, das sagt nicht nur Hitzfeld. Die DFL steckt da tief drin. Sie werden Dortmund stürzen, wenn Dortmund Tuchel stürzt und Dortmund dadurch die Champions League verpasst. Diese Art von schlechter Presse kann niemand gebrauchen. Schon gar nicht die DFL. Dann eben Leipzig. Ein paar neue Studien zeigen, wie wichtig die Bullen nicht nur für die Region, sondern für das ganze Land sind.“

„Miriam, sag, dass das nicht wahr ist!“

Justin stampfte mit den Füßen.

„Halt die Schnauze! Good news for people who love good news. Any press is good press.“

“Du bist so ein Spinner, Dietfried.”

Justin ging auf mich los. So kannte ich ihn nicht. Ich wehrte mich mit eins, zwei lockeren Schwingern, die Hagenberg-Scholz souverän parierte. Die Tage unter der Erde waren mir nicht bekommen. Ich blickte in den Himmel. Er war grau. Aber es war Tag. Für einen kurzen Moment war ich abgelenkt. Justin drückte mir einen Aufwärtshaken direkt unters Kinn. Ich fiel.

„Du Drecksschalker!“

Es war ausgesprochen. Ein Dammbruch.

Um uns herum hatte sich längst eine Traube gebildet. Hauke war bemüht, den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Vielleicht gelang es ihm. Vielleicht auch nicht. Ich lag dort auf der Erde. Und würde so schnell auch nicht mehr aufstehen. Justin stand über mir. Seine Schuhe landeten in meinen Rippen. Wirkungstreffer. Ich zählte: Eins, zwei, drei, vier. Dann hörte es auf.

„Drecksschalker? Reden wir nicht mehr drüber.“

„Immerhin nicht 1904!“

Schill lachte.

Justin zog mich hoch. Ich kannte ihn wirklich nicht mehr. Schill lachte, Wu hingegen wirkte nervös.

„Wir haben keine Zeit!“

Meine Rippen schmerzten. Ich stemmte meine Arme in die Hüften. Einmal Luft holen. Worum ging es überhaupt? Und wieso war ich an die Oberfläche gekommen. Hier herrschte Krieg. Jeder gegen jeden. Justin hatte es mir eindrucksvoll demonstriert. Auf diese Wucht war ich nicht vorbereitet. Wie auch. Die Woche forderte ihren Tribut. Schill drückte mir ein Schulle in die Hand.

„Ne Ausnahme. Wir brauchen Dich.“

Und ich brauchte das Schulle. Ich stürzte es runter. Hagenberg-Scholz blickte finster. Er war erschrocken. Er war kein Fan von körperlicher Gewalt. Ich aber hatte eine Grenze überschritten, ihn zu einer Reaktion genötigt. Er war enttarnt.

Wu schwieg. Sie verzweifelte. Aber sie wusste: Nur wir konnten den BVB retten. Und die DFL wollte den BVB nicht fallen lassen. Doch sie stand kurz davor. Damit stand alles auf der Kippe. China, der Pulisic-Vertrag und somit der Siegeszug in den USA, der Ruf der Liga, das soziale Gewissen des Fußballs, denn das war der BVB.

„Reißt Euch zusammen. Dietfried, Du fliegst nach Dortmund. Cessna ab Tegel. Ich habe Dir was zusammengestellt. Leg Dich nochmal hin. Und sei pünktlich.“


Schlaf jedoch war mir fremd geworden. Schill schlug mein Notlager auf. Unter der Bahn. Neben der Kreuzung. Alles andere hätte ich mir nur verstört. Ich schlief ein. Langsam, ganz langsam. Der Schlaf holt Dich sowieso.

Irgendwann war ich in Tegel. Davon hatte ich nichts mitbekommen. Schnell noch ein Schulle. Die Citation CJ4 stand an D. Ein langer Weg bis auf Rollfeld. Der graue Vorhang reichte beinahe bis auf den Boden des Flughafens. Ich genoss die Dunkelheit, besser grau als blau, dachte ich mir, und sah auf die Bildschirme vor mir. Spielszenen der Borussia. Ein Pressegespräch von Tuchel. Sky News Ultra HD. Die Meisterfeier 2011, die Jubelbilder aus Berlin. Ein Jahr später. Wembley 2013. Wolfsburg im November 2013. Im Schnelldurchlauf. Immer wieder. Was wollte Wu mir sagen?

Über die Lautsprecher lief ein schleppender Song. Piano, eine flirrende Gitarre.

„It takes so long for you to name the part…where it fell apart.“

Wolfsburg. Die 44.Minute. Es war so klar. Das war es.

Der Flug verlief unspektakulär. Ich ging noch einmal die Unterlagen durch. Wu hatte gut gearbeitet. Aber ich würde den Verein nicht bekommen. Ich brauchte ein Sperrfeuer, ich brauchte Justin Hagenberg-Scholz. Anders würden wir die Situation nie lösen können. Wu verstand sofort.

„Die Akte Weigl?“

„Ja.“

„Fantastische Idee. Darauf werden die stehen. Die Maschine pendelt. Justin und die Akte sind auf dem Weg.“


Am Dortmunder Flughafen hatten sie groß aufgefahren. Ein alter Diplomat B 2,8. Automatik. Aki, kleiner als ich in Erinnerung hatte, war mit Cramer gekommen. Cramer erzählte von Wus Anruf. Er sorgte sich. Aki schritt

„140 PS, Servolenkung. 2.753 cm³ Hubraum. Klopp wollte den nie. Jetzt fahr ich ihn. Dembowski, uns geht es hier um Tradition. Der Coach macht alles kaputt. Weide will nicht mehr. Die Mannschaft auch nicht. Ich stehe so kurz davor, Weide zum Spielertrainer zu machen.“

„Aki! Ich bitte Dich!“

Cramer wurde nervös

„Er spielt kein Skat!“

„Ich auch nicht.“

Wir passierten Aplerbeck. Die alten Kasernen rechts waren längst verschwunden, auf der südlichen Seite ein Industriepark entstanden.

Cramer telefonierte mit Wu. Er war blass. Er stotterte. Wu konnte sehr dringlich sein.

„Brackel?“, fragte ich Aki.

„Wir fahren in die Geschäftsstelle.“

„Aki. Ich muss mit Tuchel reden.“

„Wieso? Der redet nicht.“

„Weigl! Das geht nicht mehr lange gut.“

„Er ist unsere Zukunft. Dembele, Passlack, Weigl, Pulisic, Mor, Isak. Die Jungs sind unsere Zukunft. Merino auch. Aber der spielt nie.“

„Darum geht es, Aki! Merino spielt nie. Der Don aber ist die Lösung. Hagenberg-Scholz kommt nach. Der bringt die Akte mit!“

„Welche Akte?“

Wir passierten eine riesige Traglufthalle. Die Häuser waren jetzt zweigeschossig. Der alte Teil der B1. Der Westfalendamm. Zuhause.

Ich nahm all meinen Mut zusammen. Ich durfte keinen Fehler machen.

„Die Akte Weigl! Hier ist der Plan.“

Ich erinnerte Aki an Weigls Ankunft. Er war Dortmunds letzter großer Transfer. Aber jetzt liefen sie Gefahr, ihn dem Tuchelschen System zu verheizen. Weigl, das war mir klargeworden, war die Schwachstelle der Borussia. Die Schwachstelle auf dem Platz. Außerhalb gab es einhundert und mehr. Tuchel aber hatte das nicht zu interessieren.

„Wir setzen Hagenberg-Scholz auf Tuchel an. Er bringt alles mit. Erdnüsse, Champagner, guten Gin. Die werden das stemmen. Wir müssen den BVB von seinen Fesseln befreien. Wir müssen verhindern, dass der Laden in die Luft fliegt.“

„Aber wie, Dembowski? Wie stellen wir das an?“

„Ist Zorc da?“

„Der ist immer da. Transferzeit. Hat für nächsten Dienstag schon seinen gelben Anzug rausgelegt. Das ist alternativlos.“

Ich schwieg.


Aki bog in die Geschäftsstelleneinfahrt ein. Ein Ordner grüßte uns. In der Ferne sah ich ein Sky-Kamerateam rumlungern.

„Was wollen die hier?“

Immerhin war es jetzt dunkel, ich zog ein Schulle aus der Tasche. Es beruhigte mich.

„Die sind immer hier.“

„Keine Kameras. Verdammt. Keine Kameras. Hat Wu …?“

„Schon.“

Aki winkte den Ordner heran. Ich trank. Sie redeten. Er ging. Das Kamerateam fluchte. Das Kamerateam verschwand.

Wenig später blickten wir auf die B1. Ich war bei meinem vierten, fünften Schulle. Ich erspähte das Stadion. Ich sah auf den Stadtplan. Ich deute auf die Lindemannstraße, Ecke Kreuzstraße.

„Das können wir nicht machen, Dembowski. Die Fans brennen uns die Hütte nieder.“

„Wolfsburg war Euer 9/11. Ihr müsst Euch von der Vergangenheit trennen. Ihr müsst Platz machen. Ihr müsst den Kader atmen lassen, und endlich alles begraben. Ihn jetzt, Roman, Nuri im Sommer. Ihr habt den Neuanfang verschleppt.“

„Aber die Fans…“

„Die Fans? Die sind schon lange drüber. Die tanzen Euch auf der Nase rum. Den Spagat zwischen Borsigplatz und Schanghai ablehnen, jede Veränderung als Angriff auf ihre Fankultur begreifen, jede neue Entwicklung als den nächsten Tod begegnen. Die Fans sind es nicht wert, Aki. Für jeden Fan, der abspringt, warten woanders 10 neue Fans. Aber dafür müsst ihr Champions League spielen, dafür müsst ihr erfolgreich sein. Schau Dir den Kader an. Was verdienen die Jungs?“

„Ja“, sagt Watzke kleinlaut. „Die verdienen recht gut.“

„Ihr müsst die jüngere Vergangenheit endlich als Eure Vergangenheit und nicht als Teil einer Entwicklung begreifen. Hol Zorc.“

Mittlerweile war Hagenberg-Scholz gelandet. Die Akte Weigl musste Tuchel überzeugen. Allein die Laufwege. Klar, er setzte jetzt auf Dembele, aber der wurde auf den Außen gebraucht. Er musste den Don an Weigls Seite stellen. Anders war die Situation nicht zu lösen. Justin würde das erledigen. An der B1 aber ging es um alles.

„Wir haben da was aus Köln. Die wollten den Don, würden ihn aber auch nehmen. Ne Leihe!“

„Wie Badstuber, genial.“

Innerhalb weniger Minuten hatte Zorc die Nachricht durchgesteckt. Sie waren alle begeistert. BOOOOM! Der nächste Transfer-Hammer. Dortmund lieferte in diesem Januar solide ab. Der unterhaltsamste Verein der Liga. Die Zeitungen schmissen ihren Überschriftengenerator an, die Fans sangen im Netz ihre Klagelieder, ich trank Schulle, und erhaschte für einen zu langen Moment einen Blick in die Restrealität, die nun entstanden war. Der Irre kündigte den Bau der Mauer an. Deswegen war ich U-Bahn gefahren, deswegen war ich verschwunden. Ich musste verdammt sein, wenn dies nicht mein letzter Job war.

„Ich hasse das Internet!“

Ich hasste es wirklich. Es war ein Fluch. Aber ich liebte es auch, dem Netz dabei zuzuschauen, wie es langsam anrollte, und wie es sich zu einer Welle erhob, die alles überrollte. Für einen kurzen Moment waren die Menschen dort wie benommen. Sie ereiferten sich. Das Internet war kaputt, und sie retteten die Welt. Mich faszinierte das. Ich trank noch ein Schulle, und riskierte hin und wieder ein Blick auf den Chor der Empörten.

„Sie toben sich aus. Morgen können wir noch einmal nachlegen. Brief die Social-Media-Jungs.“

Mein Schulle-Vorrat war aufgebraucht.


Die Social-Media-Jungs lieferten ab.

Die Fans drehten jetzt komplett durch. „Unprofessionell“, „im Tonfall nachtragend“, „herrisch“, „unsouverän“, „pseudo-diplomatisches Gewäsch“, „völlig unnötig“, „They could have not written such a stupid tweet. As you can tell they got all bad reactions to it because they felt the need to add another later. We all know he wasn’t in their plans anymore. No need to pretend otherwise.”

Der große Knall. Wir hatten ihn provoziert, und würden ihn abfedern. Justin hatte die Nacht über Tuchel bearbeitet. Irgendwann waren sie bei einem Asiaten gelandet. „Die Frühlingsrollen sind hier nicht vergleichbar“, hatte Hagenberg-Scholz mir noch in der Nacht getextet, sonst aber zufrieden gewirkt. Als die Welle im Netz rollte dann: „Der Don steht im Kader.“

Wir hatten Neven reingeholt. Er liebte den Verein, er würde alles für ihn tun. Jetzt musste er eine Abschiedsbotschaft einsprechen. Er begann.

“Ich möchte Euch heute ganz persönlich eine schöne Mitteilung übertragen”, sagte der Verteidiger, dessen Zeit gekommen war. Watzke blickte mich entgeistert an. Das Team brach die Aufnahmen sofort ab. Aber es musste weitergehen. Der Einstieg war die Botschaft. Der Wechsel war eine schöne Mitteilung. Er war das Ende eines langen Zersetzungsprozesses, der in Wolfsburg begonnen hatte, und der nun endlich überwunden war. Der BVB war frei, der BVB hatte sich seiner Vergangenheit entledigt, um eine Zukunft zu haben.


Auf dem Weg zum Flughafen schwiegen wir. Ich boardete die Citation CJ4 und began meinen Text für den DID, Justin schlief. Der Schalker war erschöpft.


Was ist das für eine Szene? Alles dreht sich um den nächsten Superstar, den nächsten Vertrag, und die Frage nach dem Allergrößten. Alles dreht sich um die alltäglichen Verfehlungen des nächsten Superstars und das sich anschließende Scheitern, um Größenwahn, um Steuervermeidungsmodelle auf Inseln, die niemand je betreten wird. Alles dreht sich um die neuesten Snapchat-Filter und Instagram-Posts der modernen Helden. Make football great again!

Es gibt nur Sieger und Verlierer. Dazwischen die unendliche Leere eines gewöhnlichen Bundesligaspieltags, der doch wieder nur neue, sich stets reproduzierende Geschichten hervorbringt. Helden und Banditen. Die Helden, die Sieger feiern wir, die Banditen und Verlierer stampfen wir in den Boden. Auf dass sie nie wieder aufstehen. Doch mittlerweile sind wir zu müde, uns überhaupt zu etwas aufzuraffen.

Mit wachsender Verachtung blicken wir auf die Glitzerwelt des Fußballs und fragen uns: Was ist das nur für eine Szene?

Typen wie Neven Subotic, Mahnmale einer besseren Welt, wirken in ihr verloren. Sie weigern sich beharrlich, Teil der medialen Verwertungskette zu werden. Klar: Typen wie Neven Subotic sitzen in Talkshows, aber sie haben etwas zu erzählen. Wir hören ihnen gerne zu. Wir lassen uns von ihnen einnehmen, begeistern, wir kennen ihn ihren Lebensweg. Als Kleinkind vom Balkankrieg nach Deutschland gespült, von dort in die USA, auf einem Bolzplatz entdeckt, die Rückkehr nach Deutschland. Jetzt als Fußballer.

„Ich hatte bisher auch deshalb ein sehr glückliches Leben, weil andere Menschen uns bei der Integration in Deutschland und später in den USA unterstützt haben“, sagt Subotic. „Als ich dann 17 wurde, war ich endlich in der Lage etwas zurückzugeben, nicht zuletzt dank des Privilegs Profifußballer sein zu dürfen.“

Der Mensch Subotic auf der einen Seite, der Fußballer Subotic auf der anderen Seite. Um ihn war es zuletzt still geworden. Dabei war es der Fußballer Subotic, der den Menschen Subotic als Mahnmal einer besseren Welt in die Öffentlichkeit rückte.

Als er 2008 in Dortmund anheuerte, träumte er davon einmal international zu spielen und „ein Spieler wie John Terry zu werden.“ Der, so Subotic, könne „immer wieder Akzente setzen“ und „seine Mitspieler mitreißen.“ Vier Jahre später stand er vor Arjen Robben, verzog sein Gesicht und brüllte den Bayern an. Der hatte gerade einen Elfmeter verschossen. Dortmund war Meister. Subotic war ein Typ wie John Terry, auf der Höhe seiner Karriere. Er war einer der prägenden Spieler der Klopp-Ära. Er war emotional, fannah, kämpferisch. Er gab nie auf. Er grätschte in Wembley einen Ball von der Linie. Danach verschwand er. Ein Kreuzbandriss in Wolfsburg, die harte Reha, noch einmal die Runde unter seinem Mentor Klopp.

Unter Tuchel fand er nicht mehr statt. Seine Eigenschaften waren nicht mehr gefragt. Er wurde ein Europa League-Spieler, immer wieder von kleineren Blessuren zurückgeworfen. Im April eine Thrombose im Arm, ein geplatzter Transfer nach England, eine Rippenoperation.

Sein Comeback im November ist Sinnbild für das komplette Jahr. Die Amas spielten gegen Rödinghausen. Alles ging schief. Motorschaden, die Fußballschuhe eine Nummer zu klein. Aber das alles zählte nicht mehr. Er war jetzt wieder auf dem Platz, in seinem eigenen Disneyland. „Jeder Akt ist einfach geil. Jeder Zweikampf, jeder Pass, jeder lange Lauf.“ Einmal breitet er seine Arme aus, und rennt davon. Er jubelte, wie nur er jubelt. Da hatte er gerade das 1:0 erzielt. Die Rote Erde stand Kopf.

Subotic war das „echt“ in echte Liebe. Mit dem Weltenbummler verschwindet der letzte Eckpfeiler der großen Meistermannschaft. Aus sportlicher Sicht war er längst eine Altlast. Menschlich wird er fehlen. Es wird dauern, doch die Wunden werden verheilen.

„Ich möchte Euch heute ganz persönlich eine schöne Mitteilung übertragen“, sagte der leidenschaftliche Pulloverträger Subotic in seinem Abschiedsgruß an die Dortmunder Fans.  Endlich kann er wieder Fußball spielen. Dortmund, sagt er, werde ihn immer im Herzen behalten, und er Dortmund. Jetzt aber ist er Kölner. Dort können sie sich freuen. Auf den Menschen Subotic, und endlich auch wieder auf den Fußballer.


Wir landeten in Berlin. Die Sonne war zurück. Alles würde gut werden.