Im Oderbruch: Ein Lama bereitet sich auf das Rennen vor.  [Photo: Omorp]

 

“Ich bin Koi!” 

Das große Ermittler Heute!-Sommerinterview
Von Genevieve Heistek
 
 
 
Hinter Liepe beginnt der vergessene Teil der westlichen Welt. Hinter Liepe stellt man die Roaming-Funktion seines Telefons besser aus. Hinter Liepe kommt nur noch die Oder.
Sah ich gerade noch die Rockergangs auf ihren sonntäglichen Ausflügen zum Schiffshebewerk Niederfinow, spazierte ich gerade noch mit einem Senf-Likör aus Zimmermanns Senfstübchen, sehe ich mich nun mit dem großen Nichts konfrontiert.
Hier nahe dem Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Schöpfwerks, hier wo sich Feldlerche und Fasan Gute Nacht sagen, liegt die Lamafarm des Ermittlers Dembowski und der Oderbruchpsychologin Dörte und des Karpfen Kois, der, während ich langsam durch die Hofeinfahrt rolle, zu einem Begrüßungssprung ansetzt.
Über der Farm kreist ein Roter Milan.  Auf der langsam zerfallenden Veranda erblicke ich Dietfried Dembowski. Der Ermittler trägt seinen Trademark-Strohhut und schwarze Boxershorts. Sein Bart ist ungepflegt, seine Haare sind lang.  Americana-Drones wabern durch die Luft.
 „Alles“, sagt Dembowski und bemüht sich langsam von seinem Stuhl, „hängt mit allem zusammen.“
Deswegen bin ich hier. Darüber will ich mit dem großen Mahner reden.
Doch erst einmal führen Dembowski und Dörte mich über ihre Farm. Dort einige Lamas, hier ein paar Rinder, und immer wieder der See. „Das war früher nur ein kleiner Tümpel“, sagt die in Insiderkreisen als Expertin geschätzte Oderbruchpyschologin, „aber wir mussten ihn ausbauen. Die Eisdecke wurde für Koi zu einem Problem. Sie hat ihn erdrückt.“  
Dörte und Dembowski verwickeln mich in ein Gespräch über Uferschutzzonen, Grasfrösche, Kaulquappen und die Rückkehr der Biber. Wir sitzen auf einem Steg, der weit in den  4.32 Meter tiefen See hineinragt, und lassen unsere Beine im Wasser baumeln.  Es ist Sommer. Der Soldiner Kiez ist weit entfernt. Der Ermittler deutet noch einmal auf den Roten Milan. „Unsere Drohne“, sagt er und zückt ein Tablet. Wir beobachten uns jetzt von weit oben, inmitten dieser kargen, von den Seitenarmen zerschnittenen Landschaft. Wir sehen uns, wie wir uns beobachten. „Wir sind der unwichtige Teil dieser Welt“, bemerkt Dörte.
Mein Name ist Genevieve Heistek. Für Ermittler Heute! spreche ich mit dem ehemaligen Ermittler des Jahres. Man bittet mich nun endlich in die Stube. Ein Holztisch. Vier Stühle. Ein Kamin. Eine Hängematte. Ein Klavier. Ein Plattenspieler. Unter der Decke ein alter Ventilator. Ein Stück weiter: Ein schwerer Kronleuchter.  Kornblumen. Wohin man schaut. Auf dem Tisch, in großen, schweren Vasen auf den Dielen der Stube. Eine große Tür mit Blick auf die Koppeln. Zur Alten Oder fallen die Weiden hinter den Pappeln ein Stück ab.
Ermittler Heute: Dietfried Dembowski. Wir befinden uns in der Sommerpause. Im Winter ernannten wir Sie zum Ermittler des Jahres.  Was passierte dann?
Dietfried Dembowski: Ach, seien Sie doch still! Beeindruckend. Sie haben den Preis tatsächlich an Johann Ramoser überreicht? Arbeitet Frau Güllü noch für Sie? Lassen Sie mich eine Sache klarstellen. Ein guter Ermittler legt falsche Fährten. Ein guter Ermittler beschreibt den Ist-Zustand und zeigt Perspektiven auf. Das sehe ich bei Ramoser nicht. Der Bozener Polizeihauptkommissar ist eine Schande für unseren Berufsstand. Erinnern Sie sich? Der Unfall im Trainingslager, und das Cover-Up? „Natürlich kann man aus jeder Wiese raustreten, sonst muss man auf eine Rennstrecke gehen.“ Damit hatte er im Grunde genommen alles gesagt. „Sonst muss auf eine Rennstecke gehen“. Das will natürlich niemand. Die Bilder sind zu gewöhnlich, erst das Alpenpanorama macht es tollkühn. Ramoser arbeitete dem Kapital zu. Diese Tatsache allein rechtfertigt keinen Preis. Wissen Sie, wie ich das nenne? Ramosern! Und Garcia? Der, aber dazu kommen wir später sicher noch, hat mit den Behörden gemeinsame Sache gemacht. Ein absolutes No-Go!
Dörte: Er trank wieder. Er prügelte sich. Er verschwand. Sie haben versucht, ihn zu zerstören. Aber Dietfried war stärker. Sie können ihn angreifen, sie können ihn eine Ecke stellen, doch Sie werden dadurch keinesfalls den Lauf der Welt stoppen. Es ist Ihre Angst. Es ist nicht unsere Angst.
Im Dezember 2014 wurde Dembowski für seine Recherchen im Falle Marco Reus ausgezeichnet. Seine Ausführungen waren zum damaligen Zeitpunkt bemerkenswert, und von einer großen Vision getrieben. Reus, hatte der Ermittler erklärt, würde dem Angebot der Bayern nicht erliegen, sondern sich vielmehr für den Sprung in die MLS entscheiden. Wenige Wochen später stellten sich seine Behauptungen weiterhin als bemerkenswert, jetzt jedoch bemerkenswert falsch heraus. Reus verlängerte seinen Vertrag bei der strauchelnden Borussia aus Dortmund. Dembowskis Ermittlungen waren von vornherein in eine falsche Richtung gelaufen. Aber er hatte einen Punkt. Ich baue ihm eine Brücke.
EH: Sie sind über Marco Reus gestolpert. Was nach einem Coup aussah, erwies sich als veritabler Flop. Wie aber kamen Sie auf diese Idee?
DD: Ich wollte einen Trend aufzeigen. Ich wollte diesen Trend überspitzen.
EH: Trend?
DD: Ach, hören Sie doch auf. Sie wissen genau, wovon hier die Rede ist. Im Fußball geht es längst nicht mehr um die 90 Minuten auf den Platz. In den oberen Ligen, bei den Stars der Liga greift das nicht mehr. Das Spiel ist zur lästigen Pflicht geworden. Es ist die Maschine, die den Geldfluss befeuert. Das Ende jedoch ist noch lange nicht erreicht. Die Vereine zieht es nach China, nach Malaysia, nach Japan. Die Vereine, ich will sie fortan Wirtschaftsunternehmen nennen, zieht es in die Vereinigten Staaten. Nur eben die einzelnen Spieler im besten Fußballeralter noch nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Darauf wollte ich hinweisen. Dann bricht alles zusammen.
EH: Was ist der Antrieb der Vereine?
DD: Neue Geldquellen anzapfen, neue Kunden generieren. Die Erzählung wird vorangetrieben, gleichzeitig auf einen Hashtag, auf ein kurzes Video, einen aussagekräftigen Moment hinuntergebrochen. Klopp triff auf Kagawa. In zwei Sprachen. Auf Facebook, Twitter, Weibo, Periscope, der Moment als Vine in Endlos-Schleife. Der Jugendspieler als Option auf die Zukunft. Er kommt nicht mehr aus der Region, sondern nach ihm wird weltweit gefahndet. Im Idealfall findet man ihn bei einem US-Verein. Der große Traum. Der Spieler, who came through the ranks ft he youth academy und jetzt US-Nationalspieler wird. Der zur Ikone des Spiels wird. Mehr geht nicht. Das ging bei Julian Green noch in die Hose, der Dortmunder Junior Flores ist in der Versenkung verschwunden, aber merken Sie sich einfach den Namen Christian Pulisic.
Dazu kommt, dass die Medienabteilungen der Wirtschaftsunternehmen größer sind als der Kader der Profimannschaften. Die Webseiten müssen auf mindestens vier Sprachen verfügbar sein. Fußball verbindet, jedoch nicht mehr national, sondern weltweit. Schweinsteiger und Philipp Lahm halten Reden auf Mandarin. Xabi Alonso kann jetzt Deutsch. Wir sind immer dran. Egal, wer wir sind. Egal, wo wir sind. Wir müssen nur davon erfahren. Wir müssen uns mit der Erzählung gemein machen. Hier der am Boden liegende Traditionsverein, dort der aufstrebende Emporkömmling, der strauchelnde Kultklub, da der bewegungsunfähige Tanker und natürlich der große Repräsentant deutscher Kultur. Lederhosen und MiaSanMia. Das ist der letzte Grund für den Erfolg auf dem Platz.
Diese Nähe zum Verein, diese falsche Nähe, diese vorgegaukelte Nähe, diese Ubiquität von Informationen zieht sich durch alle Bereiche des Spiels. Es ist entzaubert. Jetzt beginnt die letzte Phase der Kapitalisierung.  Wussten Sie, dass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nun Die Mannschaft heißt? Das ist doch absurd. Aber es ist auch konsequent. Die Auslandsvermarktung funktioniert nicht mit sperrigen Wörtern. Auch hier: Reduktion als Zauberwort.
EH: Image steht über sportlichem Erfolge und der sportliche Erfolg dient ausschließlich der Gewinnmaximierung?
DD:  Ja. Wobei es ist in Deutschland ohnehin fragwürdig ist, überhaupt von sportlichem Erfolg zu reden? Was ist das? Ein zweiter Platz hinter Bayern? Die Qualifikation für die Champions League? Der Nichtabstieg in letzter Sekunde? Ein glücklicher Pokalsieg?
EH: Das kann ich Ihnen nicht sagen.  
DD: Dann lassen Sie mich das beantworten! Alles, womit die Unternehmen Geld verdienen können. Alles, was den Sponsor in einem günstigen Licht erscheinen lässt, alles, durch das….
Dörte: Manchmal frage ich mich, warum sich Dietfried überhaupt noch für Fußball interessiert. Er ist in diesen Momenten immer so verbittert.
DD: Lass mich. Wir sollten über das Sommerfest reden.
Am morgigen Tag steht auf der Lamafarm das alljährliche Sommerfest an. Die Planungen laufen auf Hochtouren. Während wir uns unterhalten schauen immer mal wieder Lieferanten hinein. Sie liefern Biere, Wein, Softdrinks. Sie liefern Fleisch. „Das Gemüse, das Obst“, sagt Dörte, „das beziehen wir von hier. Das bauen wir an. Da leben wir autark.“
Zum dritten Sommerfest haben sich illustre Gäste angekündigt. Neben den wenigen Bekanntschaften aus dem Oderbruch, neben den liebgewonnen Besuchern der Lamafarm hat sich auch die Soldiner Kiez-Gang angekündigt. Kneipier Hauke Schill, Fußballvermesser Justin Hagenberg-Scholz samt Gattin Berenice, Spielerberater Ridley Ferundula, der sich bereits vor einigen Wochen mit dem Hausboot auf den Weg in Richtung polnische Grenze gemacht hat. Aus dem fernen Liechtenstein wird Demobwskis verstorben geglaubter Rivale, der Boulevardreporter Jens Reiser erwartet. „Vielleicht bringt er den ortsansässigen Berater mit“, verrät uns Dembowski. Die alte Dortmunder Seilschaft um Redermann hingegen hat keine Einladung erhalten, die lange, beschwerliche Reise aus dem Ruhrgebiet wird nur vom Trainer angetreten. Dem Titelverteidiger im Lamarennen. Es ist der traditionelle  Höhepunkt des Sommerfests.
Der Trainer, sagt der Ermittler und winkt ab, sei unschlagbar. Schon immer gewesen. Dörte grinst. „In diesem Jahr nicht“, merkt sie an. „Er wird ein Alpaka reiten. Ich ein Lama. Den Unterschied wird er nicht bemerken.“ Dembowski lacht. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft auf der Lamafarm. „Gnhihi. Der kennt die Panini-Bilder der letzten 40 Jahre auswendig, doch daran scheitert er.“
EH: Sie legen viel Wert auf eine akribische Planung ihres Sommerfests. Alte Wegbegleiter besuchen Sie, kehren mit großer Freude an diesen vergessenen Ort zurück. Was ist Ihr Geheimnis?
Dörte: Die vollkommene Abgeschiedenheit der Farm, die damit einhergehende Weltfremdheit, die Besinnung auf das Ursprüngliche. Der Stamm, die vier Elemente. Der Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten. Wir haben hier für unsere Gäste nur eine Festnetzleitung.  Das Internet stellen wir ab. Für die Dauer des Sommerfests gibt es nur diesen einen Ort auf der Welt. Und unsere Gitarren. Kurzum: Es ist ein Sehnsuchtsort.
DD: Sobald ich die Gäste zu Koi geführt habe, verändert sich ihre Wahrnehmung. Sie können auf einmal wieder unterscheiden. Sie können auf einmal wieder klar und strukturiert denken.  
Um den Ermittler auf die Schliche zu kommen, muss man sein Verhältnis zu Koi verstehen. Der einsame Karpfen spielt in Dembowskis Leben eine große Rolle. Während unseres Gesprächs bezeichnet er ihn wiederholt als „meinen Weggefährten“, „meinen Bruder im Geiste“. Eine durchaus ungewöhnliche Einschätzung. Ist von Koi die Rede, wendet sich Dörte ab. Sie sei, so sagt sie, beim Ausbau des Sees federführend gewesen. „Das war Dembowskis großer Traum. Ich habe meine Lamas, er seinen Karpfen. Die Ballade von Dietfried und Koi. Es ist eine traurige Ballade. Aber es ist auch eine große Erzählung“ erklärt die Oderbruchpsychologin.
EH: Was fasziniert Sie an Koi?
DD: Ein Ermittler ist wie ein Karpfen. Koi gründelt den Seegrund auf, er siebt den Boden nach Nahrung, doch der große Rest fällt zurück an seinen Platz, wird nur für einen Moment erschüttert. Mehr kann ich als Ermittler auch nicht leisten. Eine Erschütterung, ein kurzes Aufwirbeln. Mehr ist da nicht.
Das Fußballjahr 2014/2015 war eine Ernüchterung. Man merkt es Dembowski an. Der freie Fall des BVBs, die vorzeitige Entscheidung im Meisterschaftsrennen, der Aufschwung VfL Wolfsburgs, die Bedrohung Red Bull, und, natürlich, die alles überlagernden Skandale im Hauptquartier des Weltfußballverbands. Nur Schalke 04 und der Hamburger SV lieferten ab.
EH: Herr Dembowski, was ist Ihr Fazit der vergangenen Saison?
DD: Fazit Nummer 1: Der BVB ist ein normaler Verein geworden. Er zerrte von seinem Gründungsmythos, von seinen Hashtags, von seinen Fans, von seinem Trainer. Fazit Nummer 2: Was ein Event! Welch Spannung! Fazit Nummer 3: Wir können alles berechnen. Wir können alles erklären! Fazit Nummer 4: Nie waren wir machtloser.
EH: Lassen Sie uns das einmal Punkt für Punkt durchgehen.
Mittlerweile hat Dörte die Stube verlassen. Sie ertrage das alles nicht mehr, sagt sie. „Fußball, Fußball, Fußball. Gibt es nur das?“ schimpft sie.
DD: Sie ist ein wenig dünnhäutig. Zugegeben. Gleichwohl versteht sie den Ansatz. „Lama, Lama, Lama!“ Ich kann das auch nicht mehr hören. Aber das ist ihre Welt. Jeder braucht eine Welt. Niemand kann die Brutalität der Realität ertragen. Wir suchen uns eine Ersatzrealität, und machen sie dann zu unserer eigenen Realität. Wir sehen die Nachrichten, und werden erschlagen von den Krisen. Wir sehen die Nachrichten, und wenden uns ab. Wir hören von Kriegen, Krisen und Korruption, und auch wenn Krisen und Korruption auch in unserer Scheinrealität existieren, so dienen sie letztendlich nur unserer  Unterhaltung. Manchmal verschwimmen die Realitäten, manchmal können wir nicht mehr differenzieren. Was ist wichtig, und was ist unwichtig? Was wird bleiben, und was wird vergehen? Brot und Spiele. Das ist unsere Welt. Und bei mir geht es um Spiele. Die Sache mit dem Brot bekommen wir nicht wieder hin. Dafür ist die Welt zu komplex. Und sonst gibt es dafür das Zentrum für politische Schönheit.
EH: Danke für Ihre Ausführungen! Ich spare mir meine Erwiderungen. Dass Sie die Augen verschlissen, ist allenthalben bekannt. Das müssen wir nicht weiter besprechen. Wenn für Sie das Schicksal wirklicher Menschen nicht von Bedeutung ist, wenn Sie sich nicht, und zwar immer nur im Rahmen Ihrer Möglichkeiten, für Ihre Mitmenschen einsetzen, wenn Sie alles einfach nur so …
DD: Einspruch!
EH: Abgewiesen….Wenn Sie alles einfach nur so hinnehmen, dann ist das so. Dann ist das tragisch. Ihre Ausflüchte haben Humor, doch sind sie jenseits von Gut und Böse. Vielleicht ist das sogar eine Stärke. Ihr Schuldeingeständnis zeigt zumindest, dass Sie das Böse nicht auf andere Personen abladen wollen, und dass Sie sich selbst nicht als das Gute sehen. Kommen wir aber nun zurück zu Ihren Punkten. Punkt 1 war die Dortmunder Rückkehr zur Normalität. 
DD: Exakt. In dieser Saison wurde die echte Liebe enttarnt. Ein Blick auf die Tabelle genügt. Ein Blick auf das Ende der Klopp-Jahre genügt. Das ist natürlich das maßgebliche Beispiel.
EH: Der Fußballphilosoph Eilenberger hatte das Ende herbeigesehnt. Und traf dabei auf großen Widerstand.
DD: Genau genommen kam Eilenberger doch zu spät. Was Klopp wirklich auf dem Trainerstuhl gehalten hat, war die Klausel in der Champions League-Ausfallversicherung. Das ist ja komplett untergegangen. Dem BVB wären dadurch Millionen durch die Lappen gegangen. Die Champions League war bereits nach dem Köln-Spiel im Oktober nicht mehr zu erreichen, der Abstieg hingegen nie eine Option. Da hat man die Saison eben mit Klopp beendet. Das hatte aber nichts mit der vom Philosophen beschriebenen Wagenburg zu tun. Das hatte rein finanzielle Gründe. Das ist jetzt nur ein Beispiel für das Verschwinden der Romantik. Es gibt ja noch hundert Beispiele mehr.
EH: Punkt 2 waren die Hashtags und die Events.
DD: In aller gebotenen Kürze: Wenn sogar die Abfahrt eines Mannschaftsbus live über die Stationen gejagt wird, dann ist irgendwo etwas falsch gelaufen. Schon lange. Dann halten wir das nicht mehr auf. Verstehen Sie mich nicht falsch. Nicht jeder denkt in Hashtags, nicht jeder denkt an die Vermarktbarkeit. Aber dort ist das Geld. Da kommen wir immer mehr hin. Das ist bedenklich. Und da muss man gegensteuern. Da muss man vermitteln, was ein Stadionbesuch bedeutet. Das muss man weitergeben. Aber ein Besuch wird immer teurer. Und Fußball ist kein Fernsehsport. Auch wenn Experten wie Hagenberg-Scholz das anders sehen.
Der Ermittler eilt jetzt durch die Antwort. Er wird spürbar lustloser. Seine Gedanken kreisen immer wieder um das große Sommerfest auf der Lamafarm. Er schaut mich an. „Diese Alpaka-Nummer. Da geht mir das Herz auf.  Wir laden die Städter ein, und nutzen ihre Ahnungslosigkeit aus. Dörte ist schon ne Nummer“, sagt er. Dörte, und Koi, mehr braucht Dembowski nicht, hat man das Gefühl. Der Rest ist ein Zeitvertreib, ein notwendiges Übel. Doch er lässt sich nicht darauf festnageln, er weicht den Fallen aus. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wieso wir hier sind“, philosophiert er, und man möchte ihm raten, sich doch lieber weiter mit seinen Ermittlungen zu beschäftigen, sich weiter seinen Trinkgelagen hinzugeben. Er sagt, das wird mir zunehmend klarer, wenig. Nicht, weil er nichts zu sagen hat, sondern weil er sich schützen will. Weil, so drückt er es einmal aus, er „zu viel Dunkelheit gesehen hat.“
EH: Lassen Sie uns das jetzt schnell beenden. Punkt 3: Alles kann berechnet werden.
DD: Das liegt auf der Hand. Es gibt für alles eine Erklärung. Hinsight is a bitch. Nach den Partien skizzieren die Experten die spielentscheidenden Situationen, nehmen die Taktik auseinander, erklären uns anhand von Statistiken die vergangenen 90 Minuten. Wir kennen die Laufwege, die Passquoten und die Erfolgsquoten nach Standardsituation, wir haben die Heat Maps vor uns, und wir sehen den entscheidenden Zweikampf in Endlosschleife und sezieren jede Entscheidung des Schiedsrichters. Wir haben uns von der individuellen Klasse der Spieler verabschiedet, und berauschen uns an den Avataren, deren Bewegungsläufe wir vorher bereits detailgetreu auf unseren Konsolen studiert haben. Aber wissen Sie, was mich wirklich besorgt?
EH: Nein!
DD: Dass all diese Dinge natürlich von größter Relevanz sind. Die Datenbanken werden komplexer, und bei manchen Unternehmen auch genauer. Geld kauft Wissen, Geld kauft Spieler und das Wissen um den passenden Spieler bringt den Erfolg. Das will ich nicht abstreiten. Der Erfolg jedoch, das erwähnte ich vorhin bereits, dient ausschließlich der Gewinnmaximierung. Die Vermessung des Spiels verändert die Voraussetzungen. Fußball ist kein Player’s Game mehr. Denken Sie sich einfach Messi und Ronaldo weg. Was bleibt dann? Die Vermessung des Fußballs kann natürlich zur Chancengleichheit beitragen, sie kann für kleine Unternehmen ein Schlüssel sein, aber sie wird, hat sie sich einmal flächendeckend durchgesetzt, wieder mit Kapital entschieden. Und dieses Kapital kommt immer häufiger von immer weniger Großkonzernen. Alles hängt mit allem zusammen.
EH: Das dürfte dann der vierte und letzte Punkt sein?
DD: Sie haben aufgepasst, Frau Heistek! Respekt. FIFA, UEFA, ECA, DFB, DFL. Hüten Sie sich vor Akronymen! Dazu kommen Gazprom, Katar, Volkswagen, Adidas, Puma, Nike, Red Bull. Wem nützt es? Blatter, Niersbach, Rummenigge, Platini, Beckenbauer, Rauball, Zwanziger, Garcia, Bierhoff und ihre Schattenmänner. Natürlich ist man da machtlos. Natürlich kann man diese Strukturen nicht verändern, maximal drauf hinweisen. Das ist schade. Mit der Bedeutung stieg die Abhängigkeit. Was kann zerschlagen werden? Und was ändert es. Das Lama reitet immer weiter. Nur der Jockey wechselt. Hoffentlich merkt der Trainer nichts. Gnihihi.
EH: Herr Dembowski, ich danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Das Sommerfest am nächsten Tag ist ein voller Erfolg. Trotz deutlicher Defizite kann Dörte im abschließenden Lamarennen den entgeisterten Trainer um eine Kopflänge schlagen. Nur für Justin Hagenberg-Scholz endet der Abend mit einer Enttäuschung. Er findet keinen Weg, ein Lamarennen zu vermessen. Im Oderbruch gibt es kein Internet.  Zumindest nicht heute.