Justin Hagenberg-Scholz stöhnte einmal, hielt sich den Rücken, und stand auf. Er öffnete die Tür und blickte auf die Straße. Er war ganz allein. Rechts erhob sich das BER-Hauptgebäude, links von ihm ging der Melli-Beese-Ring erst in den Hugo-Junkers-Ring, dann in den Elly-Beinhorn-Ring und bald auch in die Schönefelder Allee über. Hin und wieder sah er ein paar Baustellenfahrzeuge die Straße entlangfahren. Dann stand er auf. Aber meist saß er. Auf einem kleinen Tisch neben ihm lag Claudia Kornmeiers Standardwerk „Der Einsatz von Drohnen zur Bildaufnahme: Eine luftverkehrsrechtliche und datenschutzrechlichte Betrachtung“ und daneben, noch ohne einen Makel, Gregoire Chamayous „Ferngesteuerte Gewalt: Eine Theorie der Drohne.“ Manchmal schaute er auf seinen iPad. Das hatte er hinüberretten können. Dann las er die neuesten Nachrichten aus Gelsenkirchen. Weinzierl und Heidel machen einen verdammt guten Job, dachte er in diesen seltenen Momenten, und dass die Schalker an der Schwelle zu einem goldenen Jahrzehnt standen. Von Mario Götze hielt er wenig, Tuchel, so sagte er sich, hatte die Kontrolle verloren.
Ridley Ferundula betrachtete das Ufer des Saatwinkler Damms. Der Sommer war weitestgehend an ihm vorbeigezogen. Wieder einmal hatte er alle Hoffnung in das Transferfenster gelegt. Doch fielen mittlerweile nicht mehr Brotkrumen für ihn ab. An manchen Tagen klickte er sich auf transfermarkt.de durch die Spielerlisten seiner Mitbewerber. Ihm hatte man den Eintrag ganz gestrichen. Er war Geschichte. Noch einmal die Hosenträger richten, noch einmal die letzten Ersparnisse in Lebensmitteln tauschen. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Damit waren Schmerzen verbunden, Ängste, Sorgen. Aber es war ihm bereits egal. Einmal würde er aufwachen, und ablegen. Deutschland gab es für ihn schon lange nicht mehr.
Hauke Schill saß in seiner neuen Bar. Das Soldiner Eck hatte er endlich hinter sich gelassen. Die wenigen Gäste hatten ihn nur noch genervt, die Jukebox war ihm seine größter Feind geworden. Die Gäste wollten anschreiben, in der Jukebox drückten sie nur die alten Lieder, in denen es um Liebe, Aufbruch, Landflucht ging. Einmal, als jemand gerade Revolverheld drückte, war die Situation eskaliert. Er hatte den Trinker, es waren jetzt meist jüngere Trinker, die hier ihren Touren ausklingen ließen, mit seiner HSV-Tasse beworfen. Die Tasse war zerbrochen, sein Gast spazierte mit einer Platzwunde aus dem Laden. Er hatte ihn dann geschlossen. Endgültig. Für immer. Kein Schulle mehr. Auch kein Fußball mehr. Die letzte Sky-Erhöhung wollte er nicht mehr akzeptieren. Seine Hamburg-Tasse war nicht mehr, und der Transferrausch seines Vereins ihm ohnehin reichlich unangenehm. Er war jetzt Barbetreiber, kein Kneipier. Anstatt Schulle schenkte er Craft Beer aus. 215 Sorten aus aller Welt. Er saß jetzt südlich der Osloer Straße und nicht mehr nördlich der Osloer Straße. Manchmal verirrten sich ein paar Studenten in seinen Laden. Sie blieben. Und nicht weil sie tranken, sondern weil sie ihre eigene Individualität feierten, und ihre Biere in einer App hinterlegten. Einer hatte schon über 1.000 verschiedene Biersorten getrunken. Ein anderer trug ein Andrea-Pirlo-Shirt und zeigte sich besonders begeistert vom Cerveza Ceriux Rubia mit Weißweinmost. Es war Schill eine Freude, diesen erlesenen Tropfen zu servieren. Nie wieder Schulle, nie wieder diese versiffte Kneipe. Aus der Küche schleppte er einige gedämpfte Weichtiere herbei, servierte diese neben einem schmackhaften Brotteller mit Tomaten und einem Hauch Olivenöl. Sein Gast, Pedro, war begeistert. Das hatte Schill später auf TripAdvisor nachgelesen. Der Gesundbrunnen war angesagt, und er würde davon profitieren. Irgendwann.
Miriam Wu eilte von Rekord zu Rekord. Die Auslandsvermarktung lief immer besser. Im Sommer waren die Bayern nach Amerika, die Dortmunder nach China gereist. Einmal hatte ein asiatischer Sponsor nach einem Werbedreh mit allen 18 Bundesliga-Maskottchen gefragt. Nur Oliver Bierhoff bereitete ihr ein wenig Sorgen. Er wollte nicht sehen, was alles sahen: Der Vereinsfußball dominierte den Verbandsfußball. Die intakten Strukturen: DFL, ECA. Die zerstörten Strukturen: DFB, UEFA, FIFA. Die Verbände starben. Nur ihre Events lebten weiter. Weil sich diese aus den in den Vereinen entwickelten Talenten speisten. Die Bundesliga, das wusste Miriam Wu, war die beste Liga der Welt. Neulich hatte sie einen Amerikaner getroffen. Der war auch dieser Meinung. Der Amerikaner hieß Martin Nystad. Und sollte die Liga jetzt da entwickeln. Die Bayern waren bereits da, Dortmund würde kommen und sogar Michael Henke reiste nun durch das Land der großen Hoffnung. Nystad war Wus Mann. Manchmal war Schill eifersüchtig, doch zumeist verstanden sie sich gut. Am Abend, wenn sie in der Stadt war, gönnte sich ein Craft Beer. Einmal, als sie gerade aus Barcelona kam, sah sie Justin Hagenberg-Scholz am Flughafen, aber sie wollte ihn nicht ansprechen. Er sah traurig aus.
Der Chinese im MSV Duisburg-Trikot war mir von Anfang an suspekt. Ich traf ihn im Sommer in einem Danziger Vorort, also nicht unbedingt an einem Ort, an dem man einen Chinesen in einem MSV Duisburg-Trikot erwarten würde, dazu noch mit Ivica Grlic-Beflockung. Ich sah ihn an der Galerya Baltycka, diesem Konsumfrachter an der Aleja Grunwaldzka nahe des zum Verkehrsknotenpunkt ausgebauten Bahnhof Wrzeszcz, aus dem man eine gute Sicht auf die alte Brauerei hat, die nach Berliner Vorbild zu einem hochwertigen Lebensmittelpunkt für den wohlhabenden Teil der Danziger Bevölkerung umgebaut wurde.
Abends machte sich Justin Hagenberg-Scholz auf den langen Weg zurück in den Gesundbrunnen. Mit dem Fahrrad über den gesperrten Teil der Jürgen-Schumann-Allee bis hin zum Bahnhof Schönefeld. Schumann war damals nicht aus Aden zurückgekehrt, und immer wenn er an die Landshut dachte, und daran, wie er es hätte verhindern können, vergaß er den langen Weg über die ja eigentlich gesperrte Straße, er vergaß die Lügen, die er glaubte, und die ihm so viel Anerkennung gebracht hatten. Er vergaß seinen letzten Tag im Institut, und er vergaß RaRa und er vergaß das, was ihr plötzlicher Tod mit Berenice gemacht hatte. Einmal sah er Miriam Wu am Bahnhof, da beeilte er sich, und rannte in den vorderen Wagen der S-Bahn. Niemand durfte ihn hier sehen. Seine Deckung durfte nicht auffliegen, dann wäre alles vorbei, das wusste er. Später, an der Baude, traf er manchmal auf Dietfried Dembowski. Der Ermittler trank wieder mehr. Manchmal konnte Hagenberg-Scholz ihn kaum verstehen. Von ihm ging keine Gefahr aus. Aber der DID war in Gefahr. Sie hatten schon lange keine Texte mehr veröffentlicht.
Den Sommer über hatte ich mich dem Fußball verweigert. Mich interessierte der Europameister nicht, noch war es mir nach Live-Spielen aus China, Amerika, Schweiz, Österreich. Olympia boykottierte ich aus Tradition. Auch wenn meine Stimme keinen Unterschied machen würde, war mir der Boykott Ausrede genug, endlich wieder einmal alte Platten zu hören, andere Orte zu sehen, und tagelang bei Koi zu sitzen. Mir war es egal, wer bei der Borussia unterschrieb und wieso Ancelotti nicht mehr mit Beratern sprechen wollte. Die Transfers der Blauen registrierte ich amüsiert, wenn der kicker mir wieder einmal eine aufgeregte Push-Meldung an meinen See lieferte. Dörte schrieb wieder neue Lieder, manchmal tranken wir Wein und an den besonders warmen Tagen sprangen wir zu Koi ins Wasser und schwammen mit ihm einige Runde. Er zeigte mir sein Gründelparadies und sprang behäbig über Dörtes Beine. Wir spielten coming up for air und immer gewann Koi. Wir waren keine Karpfen, aber glücklicher als je zuvor. Auf der nahen Wiese stand das Kranichpaar unter einer Weide. Es wartete auf den Herbst. Es wartete auf die Rückkehr ihrer Artgenossen. Abends zerfiel im Fernsehen die Welt. Wir sangen „Hey, bist Du auch aus Kürbis?“ und „Du bist wie ein Leguan“, Dörte rezitierte die „Lamafarm“. Sie konnte alle Strophen. Sie war die Verfasserin.
Lange hält es Dietfried hier nie aus, dachte Dörte.
Sein Boot überwachte Ferundula mit einer Kamera. Sobald er aufwachte, legte er ab. Nur ein paar Meter vom Ufer entfernt. Er wollte mit diesem Land nichts mehr zu tun haben, doch gerade in den Morgenstunden marschierten sie auf, und wollten ihn holen. Immer war jemand hinter ihm her. Doch er berief sich auf seine Rechte. Er war der Herrscher über sein Land. Er war der Kapitän seiner Republik. Wenn er sich bis zu seinem Briefkasten vorwagte, fand er dort die gelben Briefe. Dann richtete er sich seine Hosenträger und heftete die Infopost der Gerichte in Ordner. Ordner, die mittlerweile eine ganze Wand ausfüllten. Dieses Land akzeptierte er nicht mehr.
Lange hielt ich es auf der Lamafarm nicht aus. Ich trank jetzt wieder. Meist Schulle. Das musste ich mir jetzt im Supermarkt kaufen. Die Steini-Flaschen bei Schill waren nicht mehr. Und so saß ich in meiner Wohnung gegenüber der alten Kneipe und hing meinen Gedanken nach. Ich hörte die neue Dinosaur, und ich konnte die Kritiken nicht unterschreiben. Es war nicht einmal ihr bestes Album seit ihrer Reunion. Kein Song blieb haften. Dafür las ich von der Evolution der Champions League. Kalle preschte voran. Kalle sagt dies, Watzke dachte das. Niemand da, um ihnen Einhalt zu gebieten. Niemand da. Die Gier. Die Reichen werden reicher, der Rest verharrt auf Los und wartet auf den einen Investor, auf den Fall von 50+1. Schockstarre. Bier. Ain’t no sunshine when you’re gone. Also immer. Bis der Chinese auftauchte, unten an der Tür. Er schlug gegen Schills alte Scheiben. Ich trank Schulle. Hörte CCR. Wie damals in Schills Kneipe. Da die Jukebox, hier Vinyl. Der Chinese schlug fester. Ich stand hinter ihm, über ihm. Ich sah sein Trikot. Und trank noch ein Schulle. Gegen alles. Der Chinese gab nicht auf.
Genevieve Heistek hatte schon lange nichts mehr von Dembowski gehört. Beim Kongress hat sie ihn gesehen. Und wie er dort das Ende aller Zeiten verkündete. Es war die Zeit der Kraniche. Jetzt zogen die ersten Gänse über ihre Dachterrasse. Bald würden die Kraniche folgen. Der Ermittler war ihr immer sympathisch gewesen. Down to earth-Ermittlungen. Doch jetzt hieß es DID hier und DID da. Das war nicht ihre Welt.
Ferundula blickte noch einmal auf Transfermarkt.de. Er fand keinen Eintrag. Er war ausgelöscht. Er blickte auf den Monitor. Er war jetzt ganz allein. Auf einem Bild an der Wand lächelte er. Neben ihm der Prince. Hinter ihnen das Ufer. Die große Zeit. Er sah die Ordner. Das war nicht mehr sein Land. Er sprang, jetzt hielt ihn nur noch das Seil.
„Irgendwann werden wir alle ersticken“, dachte ich. „Brot und Spiele. Fußball, 24 Stunden am Tag. Die erste kasachische Liga, die Endspiele um die Copa Libertadores. Der Fußball als modernes Event. Die Klagen hier hinein, das DAZN-Abo dort hinein. 22 Mann, die einem Ball hinterherrennen, und am Ende analysieren wir das. Wir kennen die Spieler. Wir haben mit ihnen auf FIFA gespielt, wir sehen sie, wie sich in Sekundenclips in Halbräume verschieben. Sie bedeuten uns nicht. Sie sind ihre Avatare. Und wenn einer von ihnen zum Avatar wird, fühlen wir uns persönlich beleidigt. Wir wollen, dass sie Mensch sind, dass sie Fleisch sind. Wir wollen, dass sie liefern. Im Fernsehen. 24 Stunden lang. Damit wir uns beschäftigen können, damit wir träumen können, vom nächsten Spieltag. Irgendwann werden wir alle ersticken.“ Ich sah den Chinesen, der vor der geschlossenen Tür saß. Ich hörte Chokebore. Anything near water. Ich schrieb einen Text über Götze. Und der ging so:
Was waren das für Glücksmomente. Andre Schürrle stürmt die linke Seite entlang, sieht Mario Götze, der sich in den freien Raum schiebt. Der den Ball, der in diesem Moment auf ihn zufliegt, sieht, der sich instinktiv entscheidet, der den Ball von der Brust abtropfen lässt, der sich dreht, der den Ball mit links in die lange Ecke schiebt, der den größten Titel im Weltfußball sichert. „Mario Götze. Das ist doch Wahnsinn. Und da ist gekommen dieser eine Moment für Mario Götze, da ist alles andere egal. Irre. Das nächste Jokertor für Deutschland. Helmut Rahn, Gerd Müller, Andy Brehme, Mario Götze. Ist das die Viererreihe? Diese Technik, die er gelernt hat bei Borussia Dortmund, bei Volker Pröpper in der Jugend.“, das sind die unvergessene Worte, die eine unvergessen Nacht einleiten.
Joachim Löw, der sich die Haare richtet. Müller-Wohlfahrt, der die Hände jubelnd in die Luft hält, Angela Merkel, der für einen Moment die Gesichtszüge entgleiten. Gauck, der aufsteht. Deutschland, das feiert. Deutschland, das im Freudentaumel erstmals seine hässliche Fratze zeigt. Deutschland, das on top of the world ist. Deutschland, das Land, das über allen anderen steht. Hier beginnt das: Das Tor von Mario Götze.
Aber Götze spielt nicht mehr bei Borussia. Dort ist er nicht mehr willkommen. Er wird ausgepfiffen, beschimpft. Für das, was er tat und für das, was er zerstörte. Götze ist müde. Tired of all the hatin. Tired of all the injuries. Er verletzt sich. Er bleibt eine Verheißung. Er bleibt der Spieler, der das wichtigste Tor der letzten 26 Jahre schoss und der daran zerbrach. Sein Trainer, Pep Guardiola, ignoriert ihn, hält ihn klein, gewährt ihm immer wieder Spielpraxis, aber erst nachdem er ihn gebrochen hat. Sein Förderer Matthias Sammer spielt da schon keine Rolle mehr. Er hatte ihn zu den Bayern gelockt. Um Dortmund zu schwächen, um Dortmund zu zerstören, um den Fans ihren Traum zu nehmen.
Aber Sammer ist nicht mehr. Und Guardiola auch nicht. Nur die Muskeln, die Kilos, die fehlende Leichtigkeit. Die sind alle noch da. Ungebetene Gäste. Unangenehme Begleiter. Andere werden verstoßen. Die Berater, die Agenturen, die ihn zu einer Werbefläche gemacht haben. Die ihn zu einer Weltikone aufbauen wollten. Doch er blieb der kleine Junge, der von seinem Vater nach Hause geschickt wurde. Doch dort will niemand was von ihm wissen. Sie haben ihm nicht verziehen. Sie werden ihm nie verzeihen. Der Rest zeigt mit dem Finger auf ihn. Das mahnende Beispiel für den tiefen Fall in ein locker gespanntes Sicherheitsnetz. Es ist der Wucht des Aufpralls nicht gewachsen. Er sitzt auf der Tribüne. In der Nationalmannschaft auf dem Platz. Dort wird er geschnitten. Die Abstrafung dafür, dass er Müller, Özil, Kroos, Khedira ihren großen Moment raubte. Für Löw ist er ein Bauernopfer, für Tuchel war er der Schlüsseltransfer. Ohne ihn kein Schürrle. Ohne Schürrle die Unruhe.
Aber Mario Götze bleibt der, der keine Tattoos trägt. Der, der Wärme braucht und Kälte ausstrahlt. Der, dessen Karriere schon am Samstag in Leipzig auf der Kippe steht.