Als Dembowski ein paar Tage nach der zum Millionenereignis hochgejazzten Coronademo in der Bundeshauptstadt spazieren geht, kehrt der Ermittler in ein kleines Café am Mauerpark ein. Aus der Ferne vernimmt er den Klang der Bongo-Trommeln, die sich in all ihrer Monotonie als Soundtrack über das geschäftige Treiben am kurzen Ende des Parks legen.
Jugendgruppen schleppen Bierkästen und Matetröge in die Anlage, die Dealer verticken ihren Stoff vor den Augen der mit wachsamen Augen durch den Park ziehenden Polizeieinsatztruppen. Die Afrikaner haben ihre Smoker mitgebracht und verköstigen die Frisbee-Spieler, deren Tricks von den Basketballspielern unterhalb der Karaoke-Arena milde belächelt werden.
Die hohlen Augen der bald verschwundenen Masten des Jahnsportparks bewachen das „I Can’t Breathe“-Wandgemälde auf der alten Mauer. Black Lives Matter. Ein Protest aus dem vergangenen Jahrhundert. An den Rändern der Pandemie verschwimmt die Zeit, so viel ist gewiss, denkt Dembowski und bestellt noch einen Kaffee.
Im Libanon explodieren Lagerhäuser, in Belarus, wie man neuerdings sagt, erhält der lokale Diktator nicht einmal 80 Prozent aller manipulierten Stimme und schlägt wütend gegen sein Volk, in Brasilien verschwindet der Regenwald, die Vereinigten Staaten bleiben fasziniert von ihrem Lügenbaron im Weißen Haus. Er ist der größte Entertainer der Geschichte. Großbritannien wird von einer Welle von Schlauchbootflüchtlingen bedroht, die Fernsehkameras halten live drauf. Vielleicht geht jemand unter. Nur Dietmar Hopp arbeitet weiter an einem Impfstoff. Er kann die Welt retten.
Der süße Duft des Populismus veredelt den Sound der den Weltuntergang verkündenden Explosionen. Voller Hingabe stürzen sich die Menschen in den Abgrund, denkt Dembowski. Während sie fallen, jubeln sie sich gegenseitig zu. „Ich war auf der richtigen Seite“, wird auf ihren Gräbern stehen, denkt der Ermittler, “und bei mir irgendwas mit Schulle.”
Eine alte Dame beugt sich in sein Sichtfeld und zerstört jeden weiteren Gedanken. „Ich warte ja auf meine Nichte“, erklärt sie ungefragt. „Danke für Update“, erwidert der stets freundliche Ermittler und blättert weiter in der „Ermittler Heute!“. Genevieve Heistek hat sich angekündigt. Vorgespräche für die prestigeträchtige Auszeichnung, die es im Dezember wieder abzustauben gilt. Die Heistek hat noch Probleme mit den Corona-Auflagen.
Die in diesem Jahr erstmals gegenderte „Ermittler*in des Jahres“-Wahl schlägt traditionell hohe Wellen. Jetzt geht es darum, den zuständigen Behörden ein tragfähiges Hygiene-Konzept zu präsentieren. „Das kann Vorbildcharakter für die gesamte Branche haben“, sagt Heistek ein paar Tage vorher am Telefon. Vorbildcharakter. Damit bekommt man jeden Dembowski. Auch der Ermittler ist ein Vorbild. Gerade denkt er an ein kaltes Schulle bei Schill. Es ist ein heißer Sommertag. Woran sollte er sonst denken?
Und so begibt es sich an diesem Tag auf den eine tropische Nacht folgen wird, dass eine Alt-Linke mit dem Fahrrad vor dem kleinen Café am Mauerpark hält und sich zu ihrer Tante gesellt. Sie diskutieren über die Berechtigung der Corona-Proteste, verirren sich in Gedankengärten, in denen Rechtsradikale mit Alt-Linken gemeinsam gegen die Diktatur der Wissenschaft protestieren und in denen die youtube-Universität die wichtigste Bildungsquelle der Erleuchteten ist.
„Normal“, denkt der Ermittler, „ist das sicher nicht. Aber sind wir nicht alle auf der Suche nach der neuen Normalität? Es gibt zu viele Wahrheiten da draußen und vielleicht fühlt es sich sogar gut an, Teil einer eigenen Erzählung zu sein.“
Erzählungen, die es nicht nur in der Welt da draußen, sondern auch in seinem Universum gibt. Auch Dembowski ist gerne Teil einer Erzählung, die ihn in den Mittelpunkt rückt und die ihn als Anti-Helden strahlen lässt. Mit seinen Sidekicks Hauke Schill, Miriam Wu, Justin Hagenberg-Scholz und Johan Rottenberg, den er so gerne JR nannte, lässt sich der Ermittler nicht lumpen und arbeitet weiter an der großen Geschichtsschreibung, an der Erzählung vom Ende des Fußballs, wie wir ihn kennen.
„Jetzt wird es eng für den Fußball“, verkündet Dembowski dann auch beim abendlichen Umtrunk im Soldiner Eck. Noch ist die Saison 2019/2020 nicht abgeschlossen, da kündigen sich die nächsten Unglücke an. Die Zuschauer, die vielleicht irgendwann einmal wieder ins Stadion dürfen, werden vom System überwacht werden. Die Pandemie als Erfüllungsgehilfe der nicht einmal in den kühnsten Träumen ersonnenen Systeme zur Befriedung des Fußballs. Kein Alkohol, keine Stehplätze, keine Auswärtsfans, personalisierte Tickets.
„Das werden die Fans nicht mitmachen! Ich bin auf Ihrer Seite“, erklärt sodann auch der ewig besorgte Ermittler beim abendlichen Schulle in vertrauter Runde. Und auch wenn Wu ihn auf das Versprechen der Liga verweist, Rottenberg die besondere Qualität der Stadionatmosphäre für den Logenbesitze herausstellt, sich ja sogar zu der Feststellung versteigt, dass „in diesem barbarischen Umfeld“ die besten Deals geschlossen werden und JHS schlussendlich anhand allerhand Daten die besondere Stärke des deutschen Systems skizziert, lässt sich Dembowski nicht beruhigen.
„Jetzt wird es eng für den Fußball“, brüllt er nun über die immer lauter werdende Musik aus der Jukebox. „Fußball ist tot. Niemand interessiert mich mehr für diesen Quatsch. Die großen Vereine werden größer, die kleinen Vereine werden kleiner. Dazwischen hängen ein paar Klubs rum und ein Großteil tanzt ohne Absicherung über dem Abgrund. It’s over! Es gibt keinen Wettbewerb mehr.“
„Du meinst, wie die alte Weissagung der Cree? Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Sowas in der Art, Dembo?“
„Wu, was soll das? Zu viel Kelly Family gehört?“
„I believe we can!“, summt JHS. Es ist, das hat er noch nie verraten, sein peinlichstes Lieblingslied aller Zeiten. Es erinnert ihn an seine Jugend im Münsterland. Und die Konzerte auf den Marktplätzen.
„Was ganz anderes, Dembo? Dass Sancho bleibt ist doch fantastisch?“, fragt Schill. „Boss Move von Zorc. Es ist Uli und United gleichermaßen gezeigt.“
„Ich habe so meine Sorgen“, antwortet JHS. Dembowski schweigt und trinkt. „Was ist, wenn Sancho jetzt doch noch wechselt. Der BVB verspielt seine letzte Restglaubwürdigkeit. Die Zustimmungswerte sind ohnehin auf einem historischen Tiefstand.“
„Die Arroganz mit der Zorc das alles vorgetragen hat, die hat mir nicht gefallen“, stimmt Wu in den Klagegesang ein und Dembowski scrollt durch sein Postfach. „Ich finde hier nichts zu einer Vertragsverlängerung von Sancho.“
„Fehlende Transparenz“, mischt sich JHS ein. „Das ist es, was den Fußball zerstören wird. Es wird doch eng für den Fußball, Dembowski. Ich stimme Dir zu.“
Rottenberg versteht das alles nicht. Er ist noch neu hier. Und er wollte doch nur über die Auslastung der Stadien reden und die Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich bringt. Und jetzt soll der Fußball auf einmal tot sein?
„Wir haben lange drauf hingearbeitet, JR“, erklärt Dembowski. „Wahrscheinlich ist es nun vorbei. Wenn Sancho noch wechselt, ist unser Werk vollbracht.“
Da klingelt das Telefon. Woodward ist dran.
„Herr Dembowski. Guten Tag. I need your help!“