Lockerungen auch auf der Kranichfarm draußen am Rande der Republik. Dort, wo die Hänge des Oberbarnims steil ins Oderbruch fallen und die Fläche nur noch von sandigen Erhebungen unterbrochen wird, lassen wir unseren Blick entlang der Weiden streifen und folgen dem Wiedehopf, der sich mit einer Made im Schnabel mit nervösen Flügelschlägen dem Anwesen des Ermittlers nähert.
Wir lassen ihn in einer der Kiefern verschwinden und stellen uns neben Dembowski, der mit einem Schulle am Ende des kleinen Stegs steht, aus dem Wasser ragt der schuppige Kopf Kois hervor. Seine Flossen schlagen aufgeregt auf die Oberfläche. Einige Wasserläufer geraten in Seenot und können sich gerade noch in Sicherheit bringen.
Dem alten Karpfen gefällt diese Zeit des Stillstands. Was kann er sich ereifern über die zunehmende Verschlammung des Sees und die Unachtsamkeit Dietfrieds, der gerne für einen Schwatz vorbeischaut, sich aber um die Befindlichkeiten Kois wenig kümmert. „Nur ein Fisch? Du sagst: Nur ein Fisch?“, ruft Koi, als wir uns nähern. „Karpfen vergessen nie“, schleudert der aufgebrachte Seebewohner dem Ermittler entgegen. Er ergeht sich in minutenlangen Monologen über die Beschwerlichkeiten des Gründelns in Zeiten wie diesen.
„Ich kann unter all dem Dreck kaum noch meine Nahrung finden“, schließt Koi schlussendlich seine kurze Erregung ab. Der Karpfen ist grau geworden, sein Körper hängt schlaff über die Gräten. Dembowski runzelt die Stirn, nimmt noch einen großen Schluck Schulle und will uns mit einem Handschlag begrüßen. Wir lehnen ab. Wir sind nicht hier, um mit dem Ermittler Viren auszutauschen, sondern mit ihm über den anstehenden Klassiker Borussia Dortmund gegen Bayern München zu reden.
„Klassiker! Hören Sie doch auf damit“, schallt es von der Veranda. „Es ist ein Spiel, dass in der Defensive entschieden wird. Favre muss verrückt sein, Piszczek durch Can zu ersetzen. Sein letzter Einsatz auf dieser Position? Gegen Estland! Rote Karte direkt nach Anstoß? Und der soll jetzt Davies stoppen? Ist der Schweizer endgültig verrückt geworden?“
Eine bekannte Stimme legt sich über den Klang der Schwermut, die uns wie immer auf diesen Reisen begleitet. Justin Hagenberg-Scholz ist zurück unter den Lebenden. Er sitzt über den Modellen, berät Dembowski in Fachfragen. Er lässt es sich gutgehen. Aus der Ferne winkt Dörte. Sie unterhält sich mit den beiden Kranichen, die hier nicht Hoffnung, sondern Alltag verkünden.
„Beruhig Dich, JHS!“, ruft Dembowski. Koi trollt sich zurück in die Unterwasserschlammberge und wir sind mittendrin in einem Fachgespräch. Der Ermittler vermutet, dass Favre Davies so noch mehr aus der Abwehr locken will. „Und dann ab dafür: Boss-Move von Hakimi. Haaland lässt Boateng im Boden versinken. So fallen Tore, die die Welt sehen will!“
„Mit Piszczek in der Startelf hat der BVB nur einmal verloren. In der Alten Försterei. Ein spätsommerlicher Kick, der vor Arroganz nur so triefte. Es war erbärmlich. Das ist vorbei. Das zeigen alle Modelle“, sagt JHS. Seine iPads fliegen in hohem Bogen in das tiefe Gras der Kranichfarm. „Ich müsste mal wieder mähen“, sagt Dembowski und ergänzt: „Schön, dass JHS wieder da ist. Er hat mich auf eine Sache aufmerksam gemacht: Lewandowski hat kein Erbarmen. Nicht mit dem BVB, der ihm 2014 doch die Freiheit schenkte. 16 Tore in nur 11 Ligaspielen sprechen Bände.“
Mit lautem Hupen biegt Miriam Wu in die Zufahrt, lässt noch einmal Sand aufwirbeln. Fasst erwischt sie den Wiedehopf, der sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen kann. Hauke Schill ist auch dabei. Er springt aus dem SUV, schnappt sich die Fässer und rennt zur Veranda. Die Schulle-Versorgung ist gesichert. Wu hingegen doziert direkt die neuesten Zahlen. Das Hygienekonzept der DFL hat für Gewissheit gesorgt: Mit der Bundesliga ist international zu rechnen! Das zeigen ihren Zahlen. Rekorde, Rekorde, Rekorde! „Aber das kommunizieren wir nicht. Wir wollen dankbar und demütig sein. Das erreicht die Milliarden, die nach Unterhaltung und Abwechslung gieren. Unser Glück ist zerbrechlich. Ein paar Infektionen werden das System ins Wanken bringen. Bis dahin scheffeln wir aber Anerkennung“, sagt Wu.
„Sie macht einen guten Job“, nickt Dembowksi. Der Ermittler zeigt sich besonders von Seiferts Kommunikation begeistert. „Sehr solide, sehr produktorientiert. Und dann noch die Verweise auf die Fußballkultur. Denn ohne Fans…“
„…ist der Fußball nichts!“, stimmen Schill, JHS und Wu ein. Sie haben es gelernt. Sie haben verstanden, dass Fußball ersetzbar ist, dass die um das Spiel erzählte Geschichte alles ausmacht. „Fußball ohne Fans ist wie Corona ohne Drosten“, sagt JHS, dessen Groll über seinen Abschied beim RKI längst vergessen ist. „Wir gehen jetzt nach Vietnam“, verkündet Wu. „Keine Infektionen. Millionen neue Fans, die alle bereit sind, neue Helden zu verehren.“
„Haaland gegen Lewandowski. Hummels gegen Müller. Götze gegen seine Maske“, sagt Dembowski. Schill reicht ein Schulle. Frischgezapft. Die Sonne breitet ihre Wärme über der Kranichfarm aus, Dörte singt das Lied vom Leguan.
Unsere Freunde liegen sich in den Armen. Der Klassiker steht an. Die Welt wird auf das Westfalenstadion schauen, doch Insider wissen: Die Geschicke der Liga werden von einer Kranichfarm im Oderbruch gesteuert. Dort, wo die Hänge des Oberbarnims steil abfallen, der Wiedehopf zuhause ist und ein einsamer Karpfen sich gegen die Verschlammung seines Lebensraums wehrt.