Zum Glück hatte ich noch die Kopien des Ordners. Sollten die Jungs mit den Informationen doch machen was sie wollten. „Werden die sicher leaken und von einem Informanten berichten“, sagte Berg am Telefon. Er blieb ruhig und freute sich die Namen nun auch auf den einschlägigen Seiten zu lesen. „Die stellen sich als Opfer da und werden kommentieren“, meinte er lakonisch.
Es war wie immer. Am Anfang wollte ich mich in eine Sache nicht reinziehen lassen, hatte ich dann aber einmal Gefallen dran gefunden, biss ich mich regelrecht in meine Aufgabe. Dann nannte ich die Aufgabe „meine Bestimmung“, und versuchte diese, meine Bestimmung, zu einem guten Ende zu führen. Bislang war mir das noch nicht gelungen und, wenn ich reflektierte, würde mir das auch in diesem Falle nicht gelingen.
Ich saß am Küchentisch, blätterte gelangweilt durch die Tageszeitungen, lass über die neuesten Skandale. In diesen Tagen trieben sie die Nahrungsmittelhersteller durchs Dorf, der ARD blies ein rauer Wind ins Gesicht, nachdem sie ihrerseits in Richtung Onlinehändler geschossen hatten. Im Sauerland stritt man sich über eine BVB-Fahne. Vor ein paar Jahren hätte Raab darüber einen Song gemacht, jetzt aber war er ebenfalls Gegenstand politischer Diskussionen. Durfte man das Prekariat bereits im Vorfeld an der Bundestagswahl teilhaben lassen (oder nicht)? Und stand Raab für genau dieses Prekariat? Deutschland im Februar 2013. Es war gut, dass es Konstanten gab. Und es war noch besser, dass ich mich dafür nicht interessierte.
Am Mittwoch brach ich in Richtung Oderbruch auf. Es hatte wieder geschneit und es würde mir guttun in Gesellschaft der Lamas zu sein, dachte ich an der Wollankstraße stehend. Ein paar Minuten stand ich dort, verharrte im Schneegestöber, schaute den Zügen in Richtung Birkenwerder nach. Langsam beruhigte ich mich. Das, was ich für „meine Bestimmung“ hielt, war in Wahrheit nicht mehr als der letzte in mir verbliebene Funken Anstand. Ich hatte, das gestand ich mir später im Zug nach Eberswalde sitzend, großen Gefallen an der Zusammenarbeit mit Frank Berg gefunden.
Was ihn umtrieb, woher er kam, was er von mir wollte? Ich wusste es nicht. Ich lieferte die Informationen, er lieferte das Geld. Mehr verlangte ich nicht. Mehr verlangte er nicht. Die letzten Kilometer in Richtung Lama-Farm lief ich wie immer in diesen Tagen zu Fuß. Am Wendthof vorbei, den alten Oderarm auf meiner rechten Seite schritt ich die neue Apparat hörend durch die Abenddämmerung. Langsam fand ich meine Ruhe. Das Spiel, das sie Fußball nannten, interessierte hier am östlichen Ende der Republik. Auf dem Weg von Bad Freienwalde bis zur Lama-Farm sah ich genau einen Menschen.
Es war wie immer. Kaum auf der Farm angekommen, hatte ich die Stadt, hatte ich die Menschen, hatte ich die Probleme, hatte ich die Ansichten der Menschen hinter mir gelassen. Die Lama-Farm war ein Ort der vollkommenen Ruhe. Mit einer guten Flasche Wein, Dörte schien mir nur gute Flaschen dagelassen zu haben, dabei hätte ich niemals den Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Flasche Wein ausmachen können, setzte ich mich in den Wintergarten und blickte in die absolute Dunkelheit des Oderbruchs. Kein Geräusch, und war es noch so fern, durchbrach die schwarze Nacht.
Am nächsten Morgen war es grau, ich beobachte die Lamas, die in ihrer Stallung auf den Frühling warteten, so wie ich vor der Stallung auf die Rückkehr von Dörte wartete. In ihrer Abwesenheit hatte der Ort sich gewandelt, er war noch ein wenig einsamer, noch ein wenig abgeschiedener geworden. Sie fehlte mir, aber sie würde zurückkehren, ich würde mich nicht wieder auf die Suche begeben müssen, nie wieder auf die Suche machen müssen.
Ich trat an den Gartenteich, er musste jetzt seit Monaten beinahe ununterbrochen zugefroren gewesen sein. Soweit möglich trat ich auf die dünne Eisschicht, kniete mich nieder, durchbrach das Eis mit kräftigen Schlägen und blickte auf die paar Karpfen, die ich im Sommer dort ausgesetzt hatte. Eine, obwohl es nur ein beliebiger grobgeschuppter Karpfen war, hatte ich einen Namen gegeben. Genauergenommen war es Dörte, die, als ich mit dem täglichen Fang nach Hause kam, es aber nicht übers Herz bringen konnte, den Fang, er war an diesem Tage mit einem Karpfen besonders erbärmlich ausgefallen, zu töten, die ihn benannt hatte.
„Den nennen wir Koi!“, hatte sie gesagt und mich angelacht. „Koi! Koi! Koi!“ „Ist ja gut, Dörte!“, hatte ich ihr geantwortet und sie mich in den Arm genommen. „Dietfried & Koi! Der Ermittler und sein alter Karpfen! Das ist doch eine schöne Geschichte. Du musst sie Dir nur denken. Die Geschichte von Dietfried & Koi. Denk dran, wann immer Du an Dir zweifelst“, waren ihre Worte an diesem lange vergangenen Abend im Sommer 2012.
Auf dem brüchigen Eis des Gartenteichs kniend, meine Hand langsam in Richtung Koi streckend, erinnerte ich mich der Worte. Die Geschichte musste nur erzählt werden, dachte ich. Wie alles nur erzählte werden musste. Die Wahrheit, dachte ich mit einer Hand im kalten Gartenteichwasser, musste ans Licht kommen. Mit einmal war mir klar, dass es nicht um die Wahrheit ging. So viele Dinge waren wahr. Die Geschichte musste erzählt werden. Langsam schmiegte Koi sich an meine Hand.