Am Tag, an dem Justin Hagenberg-Scholz sein Leben ließ, war sonst wenig los im Soldiner Kiez. Morgens stand der Ermittler auf seiner Dachterrasse. Es waren die letzten Monate mit Blick auf die Bösebrücke. In der Baulücke auf der Sichtachse an der Grüntaler hatte der Verdichtungsprozess eingesetzt. „Nicht Verdichtung! Das ist Verdrängung. Es geht um Klarheit in der Sprache“, dachte Dembowski.

Vor ein paar Tagen erst hatte ihn der Big City Club aus dem Soldiner Eck verdrängen wollen und Dembowski war in der Tat in den Sonnenuntergang gezogen. Er war Jack Bauer am Ende der vierten Staffel „24“ und doch nicht am Ende. Bauer hatte alles aufgegeben, um seinem Land eine Zukunft zu ermöglichen. Doch die Explosionen hatte dieser komplette Identitätsverlust nicht gestoppt.

Alles war nur schlimmer geworden. Und daran dachte der Ermittler, doch hatte er sich aufgeben müssen, um nicht in einem klebrigen, aus Verschwörungen und Verlockungen gesponnen Netz zu enden. Verschwunden aber war er nicht. Er war nur nicht mehr da. Die Apokalypse hatte das Berliner Westend erreicht. Es gab genug zu tun.

Justin Hagenberg-Scholz aber war wieder da. Der BVB hatte ihn mit der Stürmersuche beauftragt. Ein Traumjob für den Datenfuchs. Er hatte sich in den letzten Monaten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er brauchte den Dembowski-Zirkus nicht mehr. Während sich Dembo zum Jahresende hin wieder einmal für die große „Ermittler Heute!“-Wahl aufstellte und sich Genevieve Heisteks Besuch im Soldiner Eck ausmalte, hatte sich sein Sidekick in den Daten verloren. Dort – und nicht im Schulle – vermutete er die Wahrheit.

Nach Sichtung aller ihm verfügbarer Daten und Videos stellte er besonders den norwegischen Wunderstürmer Erling Braut Haaland in den Mittelpunkt der Dortmunder Scoutingaktivitäten. „Linker Bumms mit absurder Ballbehandlung, technisch schwach. Für 20 Millionen ein Geschenk“, stand unter dem Strich seines Abschlussberichts mit der Überschrift „Dringende Kaufempfehlung!“

Und wo war Miriam Wu? Sie hatte sich nach ihrer Reise in die Region Xinjiang im Nordwesten Chinas verändert. Aufgebrochen, um neue Datenerhebungsmethoden zu analysieren. Zurückgekehrt mit dem Soldiner Score, der Dembowski in Bedrängnis brachte, am Rest der Welt jedoch spurlos vorübergegangen war.

Das Jahr 2019 hatte Wu an die Grenzen der Wahrnehmung gedrückt und sie sich dort eingerichtet. Terror und Schrecken fand für sie nicht mehr nur in Netflix-Serien statt, sie hatte es gesehen und sich in einem schwachen Moment zum Handlanger eines Regimes gemacht. Man müsse sich in die Lage der Chinesen hineinversetzen, sagte sie und doch wollte es ihr nicht gelingen.

Auch Hauke Schill hatte das Ende der Dekade einigermaßen schadlos erreicht. Er war nicht länger allein, begrüßte nun die uniformen Hipster, die sich mit trockenen Lippen küssten und die Ameisen in der Spüle beobachteten. Man müsse mal durchwischen, dachte er. Schill blickte auf die glitzernden Lichter der Großstadt, die er durch seinen alten Röhrenfernseher sah. Draußen in der großen Stadt hatte er sich lange nicht mehr blicken lassen. Der Rückzug in die überschaubaren Räume seiner Eckkneipe hatten ihn wieder atmen lassen.

Der DID hatte alle Vorbereitungen getroffen. Die dritte Dekade des 21. Jahrhunderts konnte beginnen. Noch einmal würde vorher der Ermittler des Jahres ernannt werden. Es bestand überhaupt kein Zweifel an Dembowskis Sieg. Gerade nach der Kontroverse um das Football-Leaks-Team.

Die Hamburger Ermittler schleppten sich von Tag zu Tag, stemmten sich gegen den Sturz, versuchten Ungereimtheiten aus dem Weg zu räumen. In der „Ermittler Heute!“-Redaktion hatte man von diesem Kampf längst Notiz genommen. Die Stimmzettel waren verschickt. Jetzt mussten die Experten ihr Urteil bis zur DID-Silvester-Gala im Haus 14 der Waldsiedlung Wandlitz fällen.

Doch wir waren nicht hier, um Bilanz zu ziehen, sondern einen kurzen Blick in die Seele des großen Dembowskis zu werfen. Wir trafen den Ermittler auf der Dachterrasse seiner Bleibe im Soldiner Kiez. Er ist nicht verschwunden, er ist nur nicht mehr da.

„Es ist nicht leicht, Dembowski zu sein“, sagte Dembowski. „Ich habe mich in all den Jahren der Wahrheit verpflichtet. Doch ich weiß nicht mehr, was Wahrheit überhaupt ist. Das ist das, was ich in den letzten 10 Jahren gelernt habe. Du kannst komplett in deiner eigenen Realität leben. Die bildet zu jedem Zeitpunkt die Welt, wie du sie kennst, ab. Die Realität deiner Mitmenschen existiert nicht. Du musst sie abholen und in deine Realität einladen!” Der Ermittler trat nun an den Rand seiner Dachterrasse. Er deutete aufs Soldiner Eck. “Schauen Sie doch einmal hier unten…”

Seine Worte gingen unter im ewig gleichen, bemühten Gangster-Sound der Soldiner Straße. Reifen quietschten, Menschen keiften sich an und aus der Ferne dröhnt eein Martinshorn. Doch das hier war anders. Es kam näher. Es verschwand nicht. Es war jetzt unter uns und mit ihm kam eine Armee.

In der Mitte einer Menschentraube lag Justin Hagenberg-Scholz. Dembowski rannte die Treppen runter. Er wühlte in Justins Taschen. Sie waren leer. „Verdammt“, schrie Dembowski. Er brach zusammen, schlug mit den Fäusten auf die Straße. Er sah jetzt nicht mehr.