Während der WM 2002 kletterte ich jeden Tag die paar Stufen zum Klub der Republik, ein alter Glasbau auf der Pappelallee im Prenzlauer Berg. Auf einem Sofa dort sah ich Oliver Kahns Patzer gegen Brasilien. Unten schepperte eine Tram über die Straße, vorbei an grauen, langsam bröckelnden Häuserfronten.

Als es 2020 Sommer wurde, war ich wieder häufiger in Berlin. Ich spazierte durch die Straßen, besuchte die Boatengs im Gesundbrunnen. Von ihrer Häuserwand blickten sie rüber zum alten Affenkäfig an der Panke, wo ein paar Jugendliche den Ball hin und her kickten.

Die Panke trug wenig Wasser, aber auch weniger Einkaufswagen. Der Soldiner Kiez sollte schöner werden. Einmal im Jahr stiegen ein paar Leute hinunter, entmüllten die Panke und überließen den begradigten Lauf dann wieder dem Leben im Brennpunkt.

„Man bekommt die Einkaufswagen aus der Panke. Aber Du bekommst diesen Drang nicht aus den Menschen“, sagte ich zu Johan Rottenberg während wir ein Stück weiter nördlich, unweit des Juhnke-Denkmals in der Zechliner Straße saßen. Wir blickten über das Franzosenbecken und zählten die wenigen Flugzeuge, die sich aus Tegel in die verbliebene Welt schleppten.

Rottenberg war vor einiger Zeit in Hagenberg-Scholzs Schlepptau auf der Farm aufgetaucht. Wie sich herausgestellt hatte, wohnte er oben in der Sandsiedlung auf dem ehemaligen Grenzstreifen und galt auf seinem Feld, dem Feld der Sportökonomie, als solider Denker.  Das war mehr als man erwarten durfte.

JHS hatte ihn als einen Freund eingeführt und das war einigermaßen verwunderlich. Typen wie Hagenberg-Scholz haben für gewöhnlich keine Freunde, hatte ich gedacht und mich dann aber doch geirrt. Ich hörte Rottenberg gerne zu. Aufgrund des Re-Starts der Liga drehten sich seine Überlegung aktuell um die Zukunft des Zuschauersports Fußball. Meine hingegen kreisten weiter um den Tod der Bundesliga. JHS war es anhand einiger Zahlen gelungen, den Tod der Liga nachzuweisen und jetzt ging es darum, wie man diesen Wettbewerb nun beerdigt.

„The rich get richer and the poor get poorer”, erklärte ich Rottenberg auf der Bank am Franzosenbecken sitzend und über uns war kein Flugzeug zu sehen. „Der Titelgewinner der letzten Jahre, die Bayern also, holten im Schnitt 14 Punkte mehr als noch die Meister der Jahre 1996 bis 2003. 14 Punkte. Von 70 hoch auf über 84. Mit 70 Punkten wirst Du heute Vizemeister und für Deine schlechte Arbeit attackiert. Die, die sich oben abgesetzt haben, ficht es nicht an, wer unten unter dem wirtschaftlichen Druck zusammengebrochen ist. Für jedes Kaiserslautern gibt es ein neues Leipzig.“

„Bielefeld ist aufgestiegen“, sagte Rottenberg und ich nickte anerkennend.

Aber im nächsten Jahr spielt Bielefeld dann wieder gegen den Abstieg. Und im nächsten Jahr bricht Union ein. Diese Vereine können darauf hoffen, dass sie zum neuen Mainz, Augsburg oder sogar Freiburg werden. Biotope abseits des eigentlichen Wettbewerbs. Deren Geschäftsmodell zielt nicht auf die oberste Spitze, sondern es erfüllt im Idealfall seine Funktion. Es macht Menschen glücklich. Es bietet den Fans eine Heimat.“

„Die Bayern bieten ihren Fans auch eine Heimat“, sagte Rottenberg und ich nickte anerkennend. Er gestand mir keine Phrasen zu, und so setzte ich noch einmal neu an. „Eine Heimat rund um das Stadion. Ein Ort, an dem Menschen und nicht Avatare zusammenkommen. Ein Ort, an dem es beinahe egal ist, was auf dem Rasen passiert. Weil Leid Teil der Existenz ist und Niederlagen Teil der Kultur sind. Erst wenn Du die Schönheit der eigenen Niederlage erkennst, bist Du frei.“

„Bei Bayern denke ich an das 6:0 in Hoffenheim mit all seinen skurrilen Begleiterscheinungen. Es war wie eine Vorahnung, auf das, was nach Corona auf den Fußball zukommen wird. Wenn die Fans nicht mehr erscheinen.“

„Du bist ein richtiger Thekenphilosoph“, sagte Rottenberg und ich nickte anerkennend. „Aber das mit den Avataren greife ich gerne auf. Du hast die spanische Liga gesehen, Dembo?“

Ich nickte. Dass Rottenberg mich Dembo nannte, passte mir nicht.

„Diese FIFA98-Grafiken waren natürlich eine Katastrophe. So darfst Du nicht an den Markt gehen. Aber da haben wir die Zukunft gesehen.“

Rottenberg legte mir einen Berg von Zahlen vor, die irgendetwas beweisen sollten. Was? Er setzte an.

„In den vergangenen Wochen stelle ich mir vermehrt die Frage, ob Clubs überhaupt noch Zuschauer in den Stadien benötigen. Finanziell ist dies, zumindest für die Clubs in Liga 1 und 2 nicht wirklich relevant. Schau mal, was da überhaupt noch bleibt, wenn Du die Kosten gegenrechnest“, sagte Rottenberg.

„Aber die sind doch Teil des Produkts?“

„Klar. Die sind unerlässlich für dessen Herstellung. Aber sie stören. Du kannst ihr Verhalten nicht kalkulieren. Und überhaupt: Sie kommen auch nicht mehr so verlässlich. Die Auslastung der Stadien geht sukzessive zurück. Aber nur mit vollen Stadien kannst Du gute TV-Verträge machen und die Hospitality-Bereiche füllen.“

Er deutete auf eine Zahlenkolonne. „Die Hospitality-Bereiche generieren jetzt schon 62 Prozent des Spieltagsumsatzes. Da sind die Matchday-Erlöse. Und nicht auf den Stehplatztribünen.“

„Aber…“

„Jetzt warte doch ab. Die Zukunft am Fernseher geht in Richtung Augmented Stadium. Nur das Geschehen auf dem Platz wird in Echtzeit ablaufen, der Rest ist eine Simulation ohne Störfaktor. Die Liga erhält somit vollständige Kontrolle über ihr Produkt.“

„Und wie soll das in den Hospitality-Bereichen aussehen? Da sind wir doch im Stadion“, fragte ich und nahm einen großen Schluck Schulle.

„Das ist der Clou, Dembo! Die sehen, was im Stadion passiert. Zuschauer werden immer noch zugelassen werden. Es ist ein zweites, ein ursprüngliches Erlebnis. Jetzt habe ich zwei Produkte. Und bald noch ein drittes, wenn ich in China ganze Stadien füllen kann und dort dann mit dem Augmented Stadium die Spiele an anderen Orten reproduziere.“

„Das verstehe ich nicht. Welchen Vorteil hätte das für die Zuschauer im Stadion. Sie wollen doch gesehen werden.“

„Sie werden gesehen. Von den Spielern, von den Fotokameras und den Journalisten. Das Stadionerlebnis wäre nur dann nicht mehr am Fernseher darstellbar. Diese Entkopplung macht es wieder ursprünglicher. Wir müssen dann auch nicht über 5G und das digitale Stadion reden. Den die, die dann in den kleineren Arenen auftauchen, haben das Paket Stadion gewählt.“

„Ich weiß nicht, wer das mitmachen soll, Rottenberg“, sagte ich und blickte in den Himmel. Kein Flugzeug war am Himmel.

Der Klub der Republik machte irgendwann Platz für einen Neubau. Den zukünftigen Bewohnern wurde im Verkaufspapier von der Institution vorgeschwärmt. Dann kamen die Bagger. Ein paar Jahre später eröffnete der Klub nördlich der Bornholmer Straße. Auf einem alten Brauerei-Gelände. Als immer mehr Leute in die Nähe des Klubs und des angeschlossenen Biergartens zogen, kamen die Bagger.

Den Klub der Republik gibt es nicht mehr. Die Pappelallee hat nun moderne Fassaden. Die Lofts im Norden werden bald bezugsfertig sein. Im Gesundbrunnen blicken die Boatengs von bröckelnder Fassade auf ihren alten Affenkäfig. Bis tief in den Herbst hinein werden die Fans nicht in die Stadien zurückkehren. Die Digitalisierung der Stadien wird weitere Überwachungsmaßnahmen mit sich bringen.