Koi hatte es sich in der Uferböschung eingerichtet. Über ihm malten die Zugvögel ihre Pfeile in den blauen Himmel. Frühling auf der Farm. Ein paar Kraniche waren bereits zurück. Dembowski auch. Sie gründelten, sie sprachen und die meiste Zeit saßen sie einfach nur da. Koi in der Uferböschung, der Ermittler auf dem Steg. Vielleicht würde es Kois letzter Sommer werden. Er war alt geworden. Es war das Jahr der Abschiede. Merkel, Löw, vielleicht würde es sogar Reichelt erwischen und jetzt noch Koi? Niemand wollte soweit denken. Aber dies war die Zeitenwende. Beide spürten es.

 

Dörte ließ ihnen Zeit. Sie sprach zu den Kranichen, die sich über das unstete Klima beschwerten. Sie waren die Boten des Wandels. Ihr Eintreffen versprach das Ende des Winters. Doch ihre Berichte aus dem Süden verhallten im Meer der Erregung. Sie konnten nichts zu den aktuellen Debatten beisteuern. Das machte sie so wichtig. Langzeitbeobachtungen, tradierte Geschichten. Das war ihr Metier. Darum ging es auch auf der Kranichfarm, die sich nicht der Zeit aussetzte, sondern einen eigenen Rhythmus vorgab. Statt Alarmismus gab es hier nur Kranichpostkarten from life’s other side. Das musste langen.

 

Wenn der Abend kam, Koi sich zurückzog und die Kraniche es sich auf den Wiesen behaglich machten, saßen Dörte und Dembowski auf der Veranda beisammen. In Decken gehüllt, schwiegen sie und sahen dem Weltenlauf zu. Sie hörten alte Platten. Das war ihnen genug.

 

Aber natürlich kam der Tag des Aufbruchs. Es gab immer was zu tun. So war das Ermittler-Geschäft. Entlang des Treidelwegs erreichte Dembowski erst Eberswalde und nach kurzer Fahrt die Hauptstadt, in der Justin Hagenberg-Scholz mal wieder seinen Job gewechselt hatte. JHS war nun an der Charité, nicht um mit Doktor Drosten ein Schwätzchen zu halten, sondern um Forschungen auf dem wichtigen Feld des autonomen Fahrens anzustellen.

 

„Ist die Zukunft, Dembowski,“ erklärte er. Sie tranken KiBa und saßen am Humboldthafenufer. An dieser Stelle hatte sich die Stadt einen modernen Anstrich verpassen wollen. Die gesichtslosen Fassaden der Hochhäuser hatten sie jedoch vernichtet. „Wir müssen alles entschleunigen,“ sagte JHS. Auf seinem iPad schob er ein paar Modelle hin und her. Aus Verkehrsstraßen wurden in Bahnen gebrachte Wege. „Die Zukunft ist klar. Es wir hier nur noch autonome Automobile geben. Da steigst Du zu und wieder aus. Mehr brauchen wir hier nicht. Daran arbeite ich, Dembo.“

 

JHS hatte den Job beim RKI nach seinem Russland-Trip geschmissen. „Da habe ich versagt,“ sagte er. „Ich habe da keine Leidenschaft investieren können. Berenice arbeitet jetzt in Tegel. Wir impfen weiter, Dembo. Aber ohne mich. Ich muss mich um die Zukunft kümmern. Die Pandemie ist mir zu aufgeregt.“

Kluge Worte. Vielleicht von Elon Musk gelernt. Der US-Milliardär war JHS längst ein guter Freund geworden, übernachtete lieber bei den Hagenberg-Scholzens als in einer der menschenleeren Herbergen der Stadt.

 

Großes Aufheben machte der Datenfuchs darum nicht. Sie hatten sich über Wu kennengelernt. Die hätte Musk gerne in der Big City gesehen. Doch der baute vor den Toren der Stadt und schürfte Gold im Internet. Manchmal fuhren Musk und JHS mit den autonomen Bussen über das Gelände der Charité und einmal sah man die beiden sogar in Alt-Tegel. Es waren Modellversuche. Sie erhoben die Daten. Und waren hochzufrieden.

 

Draußen im Westend, wo Hertha weiterhin das spannendste Projekt der Liga war, kämpften sie um die Ligazugehörigkeit. Das war nicht Musks Welt, ihm fehlte am Ende die Vision. Aber vielleicht war die große Zeit des Fußballs auch vorbei.

 

Wenn Dembo mit JHS am Humboldthafen saß, vernahm er immer mehr Unverständnis für die Fortführung des Geschäftsbetriebs Fußball. „Schau Dir nur an, was der Fußball mit den Leuten macht“, sagte JHS dann. „Sie haben nur noch das Spiel. Es ist ihr letzter Lebensinhalt. Es ist der Inhalt ihres Lebens, der sie erblinden lässt und der sie letztendlich zerstören wird.“ Der Ermittler sah das anders. Er liebte das Spiel noch immer. Es war sein Anker. Aber das bedeutete wirklich nichts.

 

Was auch immer Dembowski in diesem Leben bislang angefasst hatte, es war versunken. Und erst nach seinem Abschied verändert an die Oberfläche gespült worden. Doch die Geschichten liebte er nichtsdestotrotz. Manch einer mochte in ihm den Untergeher sehen, dabei war er nur der Kranich, dessen Ankunft die Zeitenwende ankündigte.

 

Eins aber hatte Bestand: Der Big City Club dort draußen vor den Toren der Stadt. JHS stieg dann wieder in einer autonomen Busse auf dem Charité-Gelände und Dembowski tief hinab ins Soldiner Eck. Er legte eine Platte auf und überlegte.


 

Scheitern ist die Berliner Identität

 

In der Hertha-Geschäftsstelle steht neuerdings eine Vitrine mit spärlichen Relikten vergangener Tage. Neben Kiralys Handschuhen ist dort auch eine Ausgabe der Fußball-Woche zu sehen. Im August 1970 titelten sie: „Kommt der Meister 71 aus Berlin?“. Kam er nicht. Die Saison endete im größten Bestechungsskandal der Ligageschichte. Hertha war mittendrin. Zumindest hier.

 

Wie der alte Hertha-Bezirk Wedding, so wird auch der Bundesliga-Verein in schöner Regelmäßigkeit zum neuesten Schrei ausgerufen. Aber wie der Wedding, so die Hertha. Beide kommen nie, trotz regelmäßiger Selbstfindungstrips. Sie wollen sich nicht selbst genügen, aber so wie die graue Seele des Weddings nie eine ganze Stadt erreichen wird, so wie die Hauptstadt selbst gerne als Failed State und nicht als Sehnsuchtsort gilt, so wird das raue Herz der Hertha nie das ganze Land erreichen. Sie probieren es trotzdem immer wieder. Doch selbst dieses Scheitern berührt niemanden. Denn die Akteure vor Ort wollen es sich nicht eingestehen. Dabei ist Scheitern ihre Identität.

 

Es reicht ein Blick auf das Pandemie-Jahr, von Klinsmanns Abschied eingeläutet, von zahlreichen Spieler- Trainer- und Funktionärswechseln sowie von den unwirklichen und unerheblichen Coronaregel-Verfehlungen der Belegschaft begleitet, stehen die unbeholfen Übernahmeversuche des Investors immer wieder im Mittelpunkt.

 

Windhorsts Millionenträume also? Weggespült von Skjelbreds Tränen. Wieder einmal eine Saison im Chaos. An der Oberfläche regiert Größenwahn, ein befremdliches Selbstverständnis. Der Anspruch zu den großen Vereinen des Landes, zu den großen Klubs des Kontinents zu gehören. Ein Traum, der die Wirklichkeit vernebelt, der Spotter auf die Tagesordnung ruft. Fernab des Glamours der großen Fußballwelt bedeutet der Pandemie-Fußball in erster Linie Arbeit. Für die Akteure dort unten auf dem Platz und für die paar versprengten Reporter auf der Tribüne. Sie schleichen sich dorthin. Sie hinterlassen keine digitalen Spuren, denn niemand möchte mit ihnen tauschen. Das Spiel Hertha BSC gegen den FC Augsburg versprach keine Anerkennung. Niemand wollte sich dort zeigen.

 

Die Betonschüssel Olympiastadion steht symbolisch für den Pandemiefußball. Es bot mittlerweile nicht einmal mehr den Hauch eines Stadionerlebnisses. Die Pre-Match-Show fand auf der Leinwand nicht mehr statt. Die Stadionlautsprecher waren runtergeregelt und nur der Leierkastenmann und dann Frank Zander kündeten den baldigen Start des Spiels an, den man sonst draußen im Umlauf verpassen konnte. Einmal, gegen die Bayern, hatten sich ein paar Fans vors Stadion verirrt. Es waren Fans der Gästemannschaft. Und einmal hatten andere gegen Preetz demonstriert. Mehr war da nicht. Nur Fußball, Hertha-Fußball. Letzter Heimsieg am 02. Januar gegen Schalke 04. Immerhin gegen die hatten sie in dieser Saison gewonnen.

 

Ex-Trainer Bruno Labbadia durfte einmal vor Zuschauern coachen. Gegen Frankfurt saßen 4.000 auf der Tribüne. Auf einzelnen Plätzen. Verstreut über das gesamte Stadion. Das Spiel ging verloren, wie so viele Spiele dieser Mannschaft, die angetreten war, um sich für Europa zu qualifizieren und die mit jeder Woche mehr und unter dem tosenden Applaus der Öffentlichkeit tiefer fiel. Der Abstieg war nicht mehr fern und vor dem Spiel gegen biedere Augsburger hörte man rund um den Olympiapark immer wieder die Worte „Panik“ und „Muss-Spiel.“ Was würde mit dieser Mannschaft passieren, würde sie nicht einmal mehr gegen Herrlichs Abwehrriegel gewinnen können?

 

Nach dem frühen Gegentreffer schoben sich die Herthaner für den Rest der Halbzeit den Ball an der Mittellinie zu. Manchmal gelangte ein langer Ball in Richtung Augsburger Strafraum. Dort verendet er. Doch statt mit Panik reagierte Vereinsarbeiter Pal Dardai, der Berliner Edin Terzic, mit Besonnenheit. Er brachte Netz und Guendouzi und der Plan funktionierte. Sogar Klünter spielte ein paar gelungene Bälle. Nach dem Spiel war er den Tränen nahe und dann sicher noch einmal. Da erhob ihn ein RBB-Autor zum Führungsspieler dieser führungsspielerlosen Mannschaft. Auf der Tribüne saß Sami Khedira ohne Maske, die er vielleicht beim Vereinsfriseur vergessen hatte. Der war bereits unter der Woche kurz in die Schlagzeilen geraten. Pal Dardai trug keine Maske und doch sendete der Friseur in Bild in die Welt. Für ihn bedeutete Hertha Glamour. Da unterschied sich von den Journalisten, die ihre Besuche im Olympiastadion verschwiegen und Dardai keinen Strick aus der Sache drehen wollten. Der Boulevard forderte eine krachende Geldstrafe in Höhe von €50 ein. Damit hatte sich die Sache erledigt.

 

In der neuen Saison wird sich ein neues Team an den ewigen Traum wagen. Fredi Bobic soll kommen, Dardai wieder in die zweite Reihe treten und ein neuer Trainer für Spielkultur sorgen. Irgendwann wird sich die Ostkurve wieder füllen. Sie werden über ein neues Stadion diskutieren, der Senat ihnen Steinen in den Weg legen und dann, wenn es wirklich wichtig ist, werden die Fans in die Stadt hineinwirken. Sie werden Kneipen retten, den Menschen Wasser bringen und Unterkünfte verschaffen. Im Olympiastadion werden sie dann die Lieder von der blauweißen Hertha singen und sich an einem 2:1 Erfolg über Werder Bremen erfreuen. Außerhalb des Stadions wird man müde lächeln. Fernab der Spitze ist das Sportspiel Fußball nicht so wichtig, legen die technokratischen Bestrebungen dieser Tage im Fernsehen, im Internet und in den Führungsetagen die Eindimensionalität des Spiels frei.  Das Gesellschaftsspiel Fußball ist das, was uns zusammenhält. Da ist egal, ob und wie Du gewinnst. Es ist nur nicht egal, wie Du dich gibst. 

 


Hertha war wie der DID. Die Zeit erforderte Überlebensstrategien. Natürlich gab es die auch beim DID. Zufrieden mit seinen Worten, angetrieben von einer Extradosis Schulle empfing Dembowski eines Tages Madlib „Mambo“ Mukono. Angespült aus dem Vereinigten Königreich, verdingte sich dieser als Poet und war doch viel mehr. Für den DID würde er den Transferexperten geben. Er kannte Leute und die kannte wiederum auch Leute. Und so waren das eine Menge Leute, die eine Menge wussten und die ihr Wissen Mambo anvertrauten. Er war herzlich. Er lachte lauter als Dembo jemals gelacht hatte und er weinte heftiger als Dembo jemals geweint hatte. Und vor allen Dingen: Er wusste mehr als Dembo jemals gewusst hatte.

Mambo würde den DID auch im Transfergeschäft internationalisieren. Seine ersten Geschichten waren nicht nur gut, sie waren überragend. Sie handelten von den Dortmunder Superstars.

„Sancho“, sagte Mambo, „hat diese Manchester-United-Energie! Fühlst Du das, Dembo?“

Aber Dembo fühlte das nicht.

„Haaland“, sagte Mambo, „hat diese Manchester-United-Energie! Fühlst Du das, Dembo?“

Aber Dembo fühlte das nicht.

Änderte aber nichts. Wenn Mambo das fühlte, dann war das Fakt. Er staffierte die Gefühle mit ein paar Worten aus und rief die Wechsel in die Welt hinaus. Von dort würden sie ihren Weg gehen. Da waren sich Mambo und Dembo einig. Das fühlten sie beide in diesem Frühling, in dem Dembowski zum Kranich wurde.