Mit einer Vielzahl choreographierter Arschtritte verabschiedet sich nun also das Jahr 2016. Das Jahr, das unser aller Tod war. Dabei begann es so gut. Wir tanzten zu Bouranis „Ein Hoch Auf Uns“ und waren uns sicher: Der große Ärger liegt hinter uns.  Nie mehr Schmerz, nie mehr Furcht.

Aber dann fielen wir: David Bowie, Prince, Keith Emerson, Glenn Frey, Merle Haggard, Sharon Jones, Paul Kantner, Greg Lake, Andy Newman, Leon Russell, Maurice White, Dale Griffin, Craig Gill, Alan Vega, Sir George Martin, Phife Dawg, Leonard Cohen, Rick Parfitt, George Michael.

Nicht der auch noch, riefen wir und legten noch einmal Hunky Dory, noch einmal White Rabbit, noch einmal Can I Kick It?, noch einmal Hotel California, und noch einmal First We Take Manhattan auf. Nichts mehr würde jetzt noch kommen. Eine Generation verabschiedete sich in einer Zeit, in der wir in unsere Einzelteile zerfielen, uns nach Gemeinsamkeiten sehnten und doch nur Diversifizierung fanden.

Die Gewissheit, dass da nichts mehr kommen würde, dass auf einen Bowie ein Bieber folgt, dass auf einen Prince eine Lady Gaga folgt, dass auf einen Leonard Cohen Mumford & Sons folgen, zerstörte jede Hoffnung.

Die Popmusik, da waren wir uns sicher, bestand nunmehr ausschließlich aus dem Backkatalog. An den letzten weltumspannenden Hit konnten oder wollten wir uns nicht mehr erinnern. Wir hatten uns längst von der Vorstellung der einenden Kraft der Popmusik verabschiedet. Die Toten des Jahres 2016 beraubten uns unserer Gemeinsamkeiten. Fortan würden wir uns noch mehr auf unsere eigene kleine Welt konzentrieren. Wir würden nicht in der Erinnerung leben, und wir würden keine gemeinsame Zukunft haben.

In Krisensituation ziehen sie sich zurück.

Sie verschließen Türen, um ungestört zu leiden. Sie weigern sich, Veränderungen anzuerkennen und beharren auf den Status Quo. Sie ziehen Grenzen, und sich in sich zurück. Sie lauern dem Fremden auf, und greifen es an, nur um sich schnell wieder hinter ihren Absperrungen zu verschanzen. Sie provozieren mit immer unglaublicheren Forderungen. Sie attackieren jeden, der nicht für sie ist. Sie stützen sich auf Fakten, die wir nicht anerkennen, da es diese Fakten außerhalb der von ihnen geschaffenen Realität nicht gibt.

Wir veranlassen einen Faktencheck, und der bestätigt uns. Sie lügen, und wir nicht. Das verkünden wir. Wir sitzen in unseren Safe Spaces und wenn wir sie verlassen, haben wir keine Kraft mehr. Wir haben uns verloren.

Wir verspotten, die, die sich schon lange hinter ihre Grenzen zurückgezogen haben. Wir notieren ihre Verfehlungen, und verfassen wütenden Beiträge im weltweiten Netz, das noch nie weltweit, sondern immer nur innerhalb unserer Peer-Group existiert hat. Wir sind moralisch überlegen. Wir öffnen unsere Türen, und lassen das Fremde hinein. Wir sind weiß, und sie sind schwarz. Wir verwischen, wir verschieben virtuelle Grenzen und wir schaffen diese Grenzen in Gedanken ab. Wir erkennen an, dass wir edel und sie verrottet sind.

Aber wir sind faul. Aber wir haben es uns in unserer Nische, in unseren Safe Spaces gemütlich eingerichtet. Und schauen von dort auf die Welt, und auf das, was uns von dieser Welt noch bleibt. Wer sich aus der Nische hervorwagt, wer nicht nur das Verrottete verspottet, sondern es in seiner Existenz bedroht, der wird zurückgeschlagen, der wird mit dem Tode bedroht, der wird, wie Jo Cox, mit dem Tode bestraft.

Aber wir haben keine Angst. Wir lassen uns unserer Leben nicht nehmen. Nicht von denen, die ihr Land in den Grenzen von 1939 zurückhaben wollen, und nicht von denen, die uns mit ihren Attacken von außen spalten. Wir sind frei. Und wir sind ohne Furcht. Wir bewegen uns zwischen den Orten. Wir sind nicht greifbar und wir haben die Lösung.

2016 war ein verdammtes Scheißjahr.

Wir aber schützen uns. Es war nicht das Jahr, sagen wir. Und zeigen auf die vergangenen Jahre.

2016 war ein Kantersieg für die Verunsicherung.

Brexit, Trump, ISIS, die vergessenen Menschen auf dem Boden des Mittelmeers, 912 Anschläge in Deutschland, ein anderer Anschlag. Wir haben keine Angst. Wir lassen uns nicht bedrohen.

Es gibt nicht mehr nur eine Realität. Schaffen wir uns 100 weitere.

Beckenbauers Flucht nach Südafrika, russische Schlägerbanden in Frankreich, Mutko, immer wieder Mutko, das Wunder von Leipzig, das Wunder von Leicester, und Hoeneß kehrt zurück. Infantino zeichnet die Landkarte der Welt neu. Auch er verschiebt Grenzen. Football Leaks und wer was verdient. China, Katar, USA. Champions League, Super League. Netzer, Zwanziger, Niersbach, Grindel, Platini, Blatter, Ceferin, und immer wieder Mutko. Staatsdoping, Fußballdoping, Freiburg-Studie. Der ewige Verdacht. Und was passiert dann? Sicherheitswahn, Pyrowahn, Maßregelung, DFB, DFL, Hooligans. Sieht denn niemand, was in Leipzig entsteht? Vertragsverlängerung, Ausstiegsklausel, Provision. Is Messi bigger than Ronaldo? German journalists all wasted a great chance to create a link with Pep Guardiola! In Berlin hat er geweint. Er ist ein Mensch! Keine Politik! Respect the game! Sky, DAZN, Eurosport. Geld. Transferrekord, Transferwahnsinn, Transfersensation, Transferflop. Deadline day. Everything’s breaking! Great signing! Smart business. Kühne rettet Hamburg. Hamburg feuert Labbadia. Schmidts Powerfußball. Tuchels Kälte. Götzes Jahr!

Wir verehren den Fußball für das, was er uns gibt. Und wie verachten den Fußball für das, was er sich nimmt. Unsere Zeit und unser Geld. Unsere Lebensfreude und unsere Kraft. Wir lesen die Geschichte des Spiels, wir vermessen das Spiel, wir interpretieren das Spiel, wir schauen das Spiel, wir kritisieren das Spiel.

Fußball produziert die neuen Helden. Fußball ist der Rettungsanker. Fußball ist unsere Ersatzrealität. Fußball kennt keine Hautfarbe, Fußball kennt keine Religion, Fußball kennt keine Grenzen. Fußball kennt nur eine Sexualität. Fußball lässt uns träumen, hoffen, bangen, zweifeln, trauern, aufgeben. Fußball hat keine Konsequenz. Fußball ist die neue Traumfabrik.

As long as the football’s loud enough, we won’t hear the world falling apart.

 

[Dietfried Dembowski, Dankesreden, Soldiner Eck, 29.12.2016]