„Ginter für 17 Millionen. Watzke muss endlich gehen“, Pestols Faus landete auf dem Tisch. Dembowski konnte sein Schulle gerade noch in Sicherheit bringen. „Leverkusen hat letzte Saison 25 für Toprak verlangt, Rüdiger geht für 35 über den Tisch. Von Mustafi will ich gar nicht erst reden. Arsenal zahlt 41 Millionen! Die können ihr Pech immer noch nicht fassen. Skhodran Mustafi ist der schlechteste, teuerste Spieler aller Zeiten. Und wir? 17 Millionen für Ginter. 22 Millionen für Tattoo-Philipp. Unfassbar. Der BVB ist am Abgrund. Zorc muss endlich gehen.“

Dembowski trank und ließ ihn erzählen.

Einen Typ wie Bruno Pestol hatte Dembowski lange nicht mehr getroffen. Kurz nach dem unerwarteten Soldiner Eck-Comeback, war Pestol, Anfang 20 und bereits Experte, aufgetaucht. Er war groß, sehr groß und breit, sehr breit. Pestol soff seiner Körpergröße angemessene Mengen und hatte viele Meinungen, die meisten aus der KKK, der „Klare Kante“-Kategorie.

Passierte etwas, wusste Pestol die Lösung. Passierte etwas nicht, verwunderte ihn das überhaupt nicht, denn nie passierte etwas, schon gar nicht etwas Sinnvolles.

Klar, Pestol erinnerte ihn ein wenig an Justin Hagenberg-Scholz ohne Drohnen, Taktik, Drama. Pestol also war ein Typ, den Dembowski nicht ausstehen konnte. Aber nun war er da. Saß bei Schill, trank Veltins, schaute dumpf aus dem Fenster.

Irgendwas würde schon passieren, und wenn nicht, dann würde das das eben das Problem sein. Den Rest entnahm er der B.Z. oder dem Berliner Kurier. Da machte er keinen großen Unterschied. Hauptsache die Meinung war nicht zu komplex, dafür umso lauter.

Wenn Pestol wirklich etwas interessierte, las er den kompletten Sachverhalt natürlich in einem Blog seiner Wahl nach. Er kannte wirklich jeden Blog und manchmal sprach er sogar einen Lesebefehl aus, der pestolsche Ritterschlag.

Das alles hätte Dembowski nicht sonderlich gestört. Es gab solche Typen. Das war ihm klar. Aber Pestol war dazu noch Dortmund-Fan. Und deswegen empfand der Ermittler ihn als Störung. Meist. Manchmal, nach langen Tag, trank er jedoch gerne sein Schulle, drückte ein paar Lieder an der Jukebox und hörte Pestol zu.

Einen Typen wie Pestol hatte er lange nicht mehr getroffen. Dembowski drückte noch ein Song. Krug und Gabriel. Auch so Typen, leider tot.

„Nuri ist ne Muschi“, sagte Pestol jetzt. „Ganz fieser Typ. Tuchel hat das genau gewusst, er hat es einfach gespürt. Was denkst Du denn, wieso der den Vertrag verlängert hat? Weil der wichtig ist? Der hat den Drecksjob für die Feiglinge erledigt. Das hat Watzke alles im Möbelhaus geplant.“

Dembowski erinnerte sich. Tuchel. Klar, der war auch mal Trainer in Dortmund. Hagenberg-Scholz und er hatten ihn retten wollen, hatten den Verein retten wollen, hatten alles gegeben. Aber Nuri? Was hatte Nuri damit zu tun?

Nichts. Dembowski erinnerte sich an seine Zeit in der U-Bahn und was danach passiert war.

Alles war den Bach runtergegangen. So dringend Justin Hagenberg-Scholz seine Warnung auch formuliert hatte, so fahrlässig wurde sie direkt im Anschluß von Thomas Tuchel übergangen.

Der nunmehr ehemalige Trainer der Dortmunder Borussia, ein Kauz sondergleichen, lehnte jede Einmischung in seinen Arbeitsbereich ab. Egal, was Hagenberg-Scholz auch angestellte hatte, der Nerd an der Seitenlinie hatte sich gegen jede Einmischung von außen verwahrt.

Auch in der Rückrunde fristete Mikel Merino an der Adi-Preissler-Allee weiter sein Schattendasein. Der Don kam zu sechs Einsätze, Tuchel hangelte sich mit seiner Staff von Aufreger zu Aufreger. Der Ballspielverein fand keine Ruhe mehr. So war das.

Erst waren die Aufreger noch unter der Oberfläche geblieben, der Verein hatte sie ja kontrollieren können.

Klar, immer wieder war diese Unruhe, diese Gerüchte, diese elenden Gerüchte konnten sie nicht stoppen. Tuchel, so flüsterte man eben bereits im Winter in einer Lautstärke, die es nur taubstummen Personen ermöglichte, das Flüstern zu ignorieren, würde das Westfalenstadion bald und zwar geteert und gefedert verlassen. Aber wer gab da etwas drauf? Und wer gab etwas auf die Charmeoffensive, wer gab etwas auf Gin Tonic und Erdnüsse? Niemand bei klarem Verstand. Niemand gab irgendwas auf irgendwas. Alle sehnten das Ende der Saison herbei, in der die Bayern sich wieder einmal zum Title langweilten und in der mit Hoffenheim und vor allen Dingen Leipzig die Triebfedern der Entfremdung um die Plätze mitspielten.

Hoffenheim war eben da, schon seit Anbeginn des Endes des modernen Fußballs wie Dembowski ihn kannte.

Der mit der Premier League, der Champions League, der Rückpass-Regel, den 11 Freunden und Nick Hornby eingeführte und ab Anfang der 2000er-Jahre von den Ultra-Gruppen verklärte Moderne Fußball der 1990er-Jahre, war im Kampf mit dem expansionistischen Modernen Fußball der Fußball-Neuzeit, die mit der WM-Vergabe 2010 an Russland und Katar begonnen hatte, und die in ihrer ersten Dekade nicht nur sämtliche Konkurrenz- zu Randsportarten degradiert hatte, und die mit ihrem Internationalisierungsdrang nicht nur den traditionsbewussten Ultra verstörte, sondern vielmehr auch für den beliebten Spruch „Der Fußball ist tot“ gesorgt hatte, und die jedoch, trotz der düsteren Prognosen derer, die von ihren düsteren Prognosen beinnahe ebenso gut leben konnten, wie die, die sich, ganz ähnlich wie Justin Hagenberg-Scholz, mit Hingabe auf die technischen Neuerungen des Modernen Fußballs der Neuzeit stürzten, und sich, geschichtsbewusst natürlich, denn geschichtsbewusst waren sowohl die Revolutionäre und die Konterrevolutionäre, über die neuen Möglichkeiten und Spielzeuge freuten, die der Moderne Fußball nicht nur durch die Internationalisierung, sondern vielmehr auch durch die voranschreitenden Technisierung und Digitalisierung des Spiels mit sich brachte, nicht einfach so enden würde.

Pestol, dachte Dembowski sein nächstes Schulle trinkend, war ein Kind seiner Zeit.

Der Moderne Fußball der Neuzeit war noch lange nicht am Ende, er war immer noch an einem Ausgangspunkt. Einerseits wurde Fußball vermessbarer, und erschloss sich dadurch neuen Randgruppen, andererseits aber wurde die große Masse mit den absurdesten Banalitäten betäubt, und solange diese Banalitäten laut genug waren, überlagerten diese, zumeist von zutiefst selbstverliebten, sich ständig selbstüberhöhenden Akteuren hinausposaunten, Banalitäten den Krach der in sich zusammenbrechenden Welt.

All diese Eigenschaften vereinte das Konstrukt RB Leipzig. Und noch viel mehr. Dagegen lehnten sich große Teile der Liga auf.

Februar 2017. Ein wütender Mob, von der Polizei mit Kameras überwacht, stürzte sich bereits im ersten Heimspiel der Rückrunde auf die mit dem Sonderzug aus Leipzig angereisten Unterstützer des zweifelhaften Projektes eines tatsächlich größenwahnsinnigen Österreichers – dessen politische Ansichten, dessen Streben nach einer einfachen, geschützten Welt voller spektakulärer Massenunterhaltung den Geschmack des nach Brot und Spiele lechzenden Volks traf und der sich in Leipzig mit narkotisierender PR und erfolgreichem Fußball endgültig ein Denkmal schaffen wollte.

Die ungezogenen Dortmunder Fans also attackierten an diesem Tag Kinder und Frauen, wie es hieß.

Und wenn auch die bald kursierenden Videoaufnahmen dies nicht bestätigen wollten, gleichwohl sie für Außenstehende befremdlich und, wie man später allendhalb las, bedrohlich wirkten, so gingen diese Übergriffe doch an das Herzstück des Vereins: Echte Liebe war tot! Tot wie Gitarre Ende der 1990er-Jahre. Der Verein musste gegensteuern. Justin Hagenberg-Scholz, der Gewalt verabscheute, weil er ihr ständig ausgesetzt war, betrachtete das durchaus mit größter Sorge. Ihm war die Taktik wichtig, ihm war die Technik wichtig, ihm waren Systeme wichtig. Daran machte er Liebe fest. Nicht an Gewalt.

Für ihn war das Liebe technisch, und auch wenn Berenice Hagenberg das manchmal anders sah, sie waren ein glückliches Paar. Jeder hatte seine Aufgabe, und diese zu erfüllen. Das war Liebe, und nicht die von Gier getriebene, von lauten Protesten der besten Fans der Welt befeuerte der Dortmunder Borussia.

Doch Dembowski und Hagenberg-Scholz hatten nun einmal einen Auftrag. Sie sollte den Ballspielverein retten. Niemand sonst. Aber sie schmissen hin.

Denn die PR-Maschine rollte auch ohne sie.

Einmal, kurz nach Leipzig, sah Hagenberg-Scholz, der am S-Bahnhof Beusselstraße eine Drohne steigen ließ, um die sich ständig verändernde Industrielandschaft um den Westhafen neu zu dokumentieren, auf eben jenen Aufnahmen, die nur die Veränderung der sich ohnehin ständig, und durchaus zu Gunsten der Stadt verändernden Industrielandschaft rund um den Westhafen dokumentieren sollten, Aki Watzke aus einem Wagen treten. Er rauchte, telefonierte, und sprang wenig später zurück in den abfahrbereiten Mercedes. Er war wieder weg. Runter Richtung Turmstraße, Stern, Springer. Die Rechtfertigungsmaschine gegen den Empörungsmechanismus. Watzke wusste die großen Player auf seiner Seite. Der Ballspielverein war essentiell für die Liga, für die Berichterstattung. Too big to fail. Immer noch. Miriam Wu konnte davon ein Lied singen. Jetzt arbeiteten andere Kräfte für die Borussia.

Natürlich, die folgende Sperre der Südtribüne hatten auch diese anderen Kräfte nicht verhindern können und wohl auch nicht wollen. Es verstärkte nur die Solidarisierung. Die Strafe, das war allen klar als sich die Aufregung legte, war überzogen und sorgte für noch mehr Unmut. Die Strafe war ein klassischer Neuzeit-Reflex. Was nicht erklärt werden konnte, wurde sanktioniert. Und was zu einer echten Konterrevolution werden konnte, wurde nur noch schärfer sanktioniert. Das Geschäftsfeld „Exempel statuieren“ war der Boomsektor am DFB-Sportgericht, das nun auch unliebsame Banner mit Geldstrafen belegen konnte. Als es wenig später im Auswärtsblock des Zentralstadions zu einem bedauernswerten Zwischenfall mit dem Sicherheitsdienst gekommen war, spielte dieser nicht in die Karten der Bundesligageschichtsschreiber, die ohnehin in Dortmund besser unterhalten wurden.

Was war das für eine Rückrunde, die Anfang am April in dem Anschlag auf den Mannschaftsbus seinen Höhepunkt fand. Ein Anschlag, der kein Terrorakt war, und somit nach Klärung der Sachlage in der Folge nur noch als Hintergrund zur schäbigen Schlammschlacht zwischen Verein und Tuchel genutzt wurde.

Da hatten Dembowksi und Hagenberg-Scholz den Job jedoch längst drangegeben. Der Taktikexperte ging zurück in seinen Späti und Dembowski hing erst am Spät, später bei Schill an der Museumsinsel und ball schon wieder im Soldiner Eck rum.

Schill war jetzt Szenegastronom. Er betrieb nun drei Läden in der Hauptstadt. Vom Fußball hatte er sich losgesagt.

„Weißt Du, Dembowski“, sagte er ein Schulle heranbringend. „Der Fußball ist tot!“

Pestol schrie: „Der Ballspielverein ist tot. Bosz macht nur einen Laktattest. Bei Tuchel war auch Spiroergometrie bei den Leistungstests dabei. Sinnvolle Veränderungen und Verbesserungen durch Tuchel werden wieder rückgängig gemacht.“

Dembowski blickte zu Schill, Schill zu Dembowski. Dembowski drückte Pestol zu Boden, Schill riss ihn wieder hoch. Hagenberg-Scholz trank einen KiBa, Miriam Wu kam die Treppe hinunter. Pestol brüllte. Hagenberg-Scholz schlug Pestol ins Gesicht. Er ging zu Boden. Schill hob ihn hoch. Wu beförderte ihn durch die Tür.

Und die Jukebox spielte Waltzing Matilda.