Es gibt keine Flaschen mehr. Noch gut eine Stunde bis zum Revierderby zwischen Borussia Dortmund und FC Schalke 04. Martin blickt den zwei Mannschaftbussen der Dortmunder hinterher. Busfahrer Christian Schulz hat die Anlage aufgedreht. Der Bild-Reporter ist schon lange im Stadion. Da stört es auch nicht. Martin wippt mit: „Wer wird Deutscher Meister? BVB Borussia!“ Das wäre doch was. Endlich wieder an den Borsigplatz. Vielleicht sogar mit Menschen.
Ist noch ein weiter Weg. Ob sich Menschen im nächsten Jahr wieder gemeinsam freuen können? Ob der BVB den Menschen hier in Dortmund dann Anlass dafür bieten wird? Es ist ein weiter Weg. Gerade nach dem Debakel in Rom. Die Meisterschaft auf der anderen Seite?
Sie ist unter Lucien Favre, der heute auf Viererkette umstellt, sogar unwahrscheinlich. Aber die Schalker wird man schon schlagen. Sogar der Trainer hat daran keine Zweifel gelassen. Jeder wird Schalke schon schlagen. An den aus der Umlaufbahn geworfenen Klub aus Gelsenkirchen glauben nicht einmal mehr die eigenen Anhänger. Die haben bereits am Vorabend ein Banner angefertigt. Der Inhalt ist wenig schmeichelhaft: Er bescheinigt den zur Schlachtbank geführten Schweinen des Tönnies-Unternehmen mehr Kampfgeist als den Spielern in dem noch auszutragenden Derby.
Martin ist Borusse. Schalker war er nie. Er glaubt an die Borussia. Auch in schweren Zeiten. In den 1990ern-Jahren war er auf der Tribüne. Mit Trikot und strahlenden Augen. Alle zwei Wochen Teil dieser Gemeinschaft. Die Südtribüne war seine Heimat geworden. Die Meisterschaften 1995 und 1996, der Champions League-Sieg 1997 mit all den Menschen. Einen großen Teil überragte er. Sichtbar. Mit seinem neonfarbenen Trikot, damals der letzte Schrei. Er trug es noch lange Zeit. Bis es auseinanderfiel, wie sein Leben immer weiter zerbrach, bis es keinen Boden mehr hatte.
Aber zum Westfalenstadion hat es ihn immer gezogen und jetzt steht Martin dort. Die Busse sind lange verschwunden, der Platz vor dem Stadion menschenleer. Niemand verkauft Bier und niemand trinkt Bier. Ein paar Grüppchen stehen herum. Sie wissen nicht, was sie im Stadion erwartet, nur dass der BVB gewinnen wird.
Martin blickt hoch auf den Schriftzug, auf dem seit langer Zeit der Name einer Versicherung steht. Martin kennt nur das Westfalenstadion. Wie die Geschäfte so laufen, will ich, ganz Ermittler, von ihm wissen. Er zeigt auf seine leere Plastiktüte und dann auf den leeren Stadionvorplatz. Die Geschäfte laufen nicht mehr. Martin findet keine Flaschen mehr.
In einem Gebüsch nahe der Roten Erde finden sich noch ein paar Flaschen. Die trägt Martin zum Kiosk. Im Stadion nimmt alles seinen normalen Lauf. Schalke 04 bekommt keinen Pass an den Mann. Der BVB wartet ab. Er hat keinen Thomas Müller, der Spiele schon von der ersten Minute an gewinnen will. In der ersten Halbzeit wird der Gegner erst einmal angeschaut. Nur zwei Saisontore gelangen den Dortmundern bislang in der ersten Halbzeit, Schalke erzielte seine beiden Saisontore in der zweiten Halbzeit.
Und so schreit Trainer Baum „Fuß drauf“ und „Zweite Bälle“ und der BVB wartet auf die zweite Halbzeit. Ein einsamer Schalke-Fan hofft im Stadion und Martin hört Radio. Dann fallen die Tore. Der BVB gewinnt. 300 Zuschauer schreien „Absteiger, Absteiger.“ In zwei Wochen ist Martin wieder da. Der BVB spielt dann gegen Bayern.
Christian Schulz weiß, was er spielen, Martin weiß, wo er sein wird . Nur Roman Bürki weiß nicht, ob er das Tor hüten darf.
Und Schalke steigt ab.