Als der Anruf kam, war sowieso schon klar, dass es nicht mehr lange geht. Zu viel war passiert in diesen 75 Tagen. Überrascht war ich trotzdem. Da ich aber weiter nichts zu tun hatte, sprang ich sofort in die S-Bahn am Gesundbrunnen, sah auf meinem Weg nach unten noch einmal auf die längst vergangenen Triumphe und blickte vom Gleis auf die seelenlosen Bauten auf dem Gelände der alten Plumpe.
Er saß am Ende der Bar und nippte an einem Bengali Gimlet, der ihm kommentarlos serviert worden war und schaute teilnahmslos in Richtung Eingang. „Dietfried“, murmelte er, als er mich erblickte. Er rang sich ein müdes Lächeln ab und erzählte mir vom Barkeeper, der Verlieren keinen Drink servieren wollte. „Du bist einer“, hatte der Barmann zu ihm gesagt und ihm dann diesen klebrigen Drink vor die Nase geklatscht.
Ich hatte ihn seit dem Abend im Soldiner Eck nicht mehr getroffen. Damals war in mir etwas zerbrochen, aber er hatte sich dem Verein mit Leib und Seele verschrieben. Besonders Zanders Hit hatte ihm so gut gefallen, dass er ihn im Stadion hatte mitschneiden wollen. Er wollte sich der Euphorie aussetzen und diese für alle Ewigkeit dokumentieren. Doch so einfach war das nicht. Schnell setzte er sich dem Verdacht aus, auf eigene Rechnung zu handeln. Wie einst Mario Götze hatte er bei seiner Vorstellung die üblichen Gepflogenheiten missachtet, den falschen Sponsor in Szene gesetzt. Eine Kleinigkeit? Natürlich. Aber eine, die ihn vom ersten Tag an Richtung Abgrund rückte.
„Ich bin es so unendlich leid, Dembo“, sagte er. „Erinnerst Du Dich an den Fever-Pitch-Schlussakkord. Arsenal muss 2:0 gewinnen, um Meister zu werden. Sie machen das 1:0 und das reicht natürlich nicht. Und jemand regt sich furchtbar auf. Um aber 2:0 zu gewinnen, musst Du das 1:0 erzielen. Ich wollte 3:0 gewinnen. Den Klassenerhalt schaffen, den Verein an Europa ranführen und ihn dann dort etablieren. Letztendlich haben alle nur auf das Endergebnis geschaut und niemand auf den Zwischenstand.“
Ich verstand ihn. Aber natürlich durfte ich es nicht zeigen. Zudem sprach er in der Vergangenheitsform, nach meinen Erkenntnissen aber würde er alle Zeit der Welt bekommen, um seine Treffer zu erzielen.
„Ihr habt ihnen eine Vision verkauft und dem Verein eine Zukunft beschert. Hier hat man sich lange Jahre mit Mittelmaß zufriedengegeben und jetzt kommt ihr mit all der Kohle, dem Gerede von der Big City und dem großen Projekt. Natürlich passt das den Leuten nicht.“
Über die Lautsprecher sang Eef Barzelay vom Aufbruch ins Unbekannte an die Orte mit magischer Anziehungskraft.
„Hör mal hin, Dembo!“, sagte er und ich tat es natürlich längst, gehörte Barzelay doch zu den wenigen meiner Helden, die sich nicht selbst gerichtet hatten. „So war es doch auch für mich. Ich saß da Ende November am Flughafen und folgte dem Gesang der Sirenen. Ich war doch deren letzte Chance. Wer wollte sich den Verein antun? Niemand. Es war ein Himmelfahrtskommando. Es drohte der endgültige Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Ich begab mich auf hohe See und war verloren.“
„Das sind schöne Bilder“, nickte ich. „Aber was willst Du mir sagen? Dass deine Rückkehr von vornherein zum Scheitern verurteilt war? Du bist doch weiterhin der Trainer.“
„Das hat sich erledigt“, sagte er und bestellte noch eine Runde Bengali Gimlet.
„Für die Verlierer am Ende der Bar“, schmunzelte der Barkeeper und schob den klebrigen Drink rüber.
Wir ignorierten ihn und ich schaute Jürgen an.
„Was ist denn los?“, fragte ich und er kam ins Plaudern. „Was immer ich angefasst habe, sie haben mit Häme geantwortet. Die Zeitungen haben mir keine ruhige Minute gelassen. Sie haben mich in der Luft zerrissen. Wenn Arne von größenwahnsinnigen Zielen gesprochen hat, dann sprach ich durch ihn und wenn er die Underwater Torpedo League promotet hat, dann sprach ich durch ihn.“
„Aber doch, weil Du ihn an Bord geholt hast.“
„Paul doch auch. Und ob der jetzt Performance Manager heißt oder Team Manager. Das ist doch egal.“
„Das klingt aber auch scheiße. Und dann Deine Sprache. Alles immer mega, alles immer total intensiv.“
„Ich habe das so satt, Dembo. Diese Sprache. Das bin ich nicht“, sagte er. „Aber ich bin der, der ich bin und meine Fassade fällt nie.“
„Das ist vielleicht Dein Problem. Dadurch machst Du Dich angreifbar. Aber habe ich das richtig verstanden? Du schmeißt hin?“
Jürgen nickte. „Ich brauch das alles nicht. Ich will nicht mehr im Regen stehen, ich will mich nicht mehr dafür rechtfertigen müssen, dass ich keine Lizenz habe. Was totaler Quatsch ist. Ich war einfach nicht mehr hier im Land und ich weiß auch warum: Diese Missgunst geht mir derart auf den Sack. Und Unterstützung habe ich nie erfahren. Die bangen alle um ihre Posten. Ich wollte hier etwas aufbauen, etwas noch nie dagewesenes.“
„Und dafür hast Du alles außer Kraft setzen wollen? Du hast Dich zum Handlanger eines Investors gemacht.“
„Ich habe hier eine Chance gesehen, gemeinsam mit der Hertha auf die große Bühne zurückzukehren. Aber total unterschätzt, wie sehr sich das alles gewandelt hat. Ich wollte die Leute mit Facebook Live abholen. Sie haben mich dafür ausgelacht. Hier kommen 35.000 Zuschauer zu den Spielen in diese Betonschüssel. Hier wird ohne Stadion nie etwas passieren. Und daran hat niemand Interesse. Nicht die Stadt und nicht die Liga, die Union abfeiert und Hertha verspottet.“
Er hatte sich nun in Rage geredet und es wurde immer klarer, dass es nicht mehr weitergeht. Überhaupt nicht mehr. Er sprach über Kalou, über Windhorsts Yacht, die Gespräche mit dem Verein und wie sich alle alten Entscheidungsträger dagegen wehrten, ihm noch mehr Macht zu geben.
„Hand aufs Herz: Deine Trainerwahl war aber auch wirklich ungünstig. Du bist nur so gut wie Dein Trainer!“
„Genau! Das ist es. Ich bin kein Trainer. Ich bin ein Manager!“
„Die Leuten sagen, Du bist ein Blender! Ein Big City Blender!“
„Die Leudde!“
Als Jürgen aufsprang, graute der Morgen. Sein Entschluss stand. Wenige Stunden später verabschiedete er sich. Die Menschen liebten es. Zum letzten Mal hatte er ihnen eine Geschichte geschenkt. Ich werde ihn nie wiedersehen, dachte ich, als es am nächsten Tag an der Tür klingelte.
„Dembo. Ich muss mich noch von meinen Fans verabschieden“, sagte er und klappte seinen Laptop auf.
[…] aufstieg und fall des jürgen k von Dembo. HaHoHe! […]