Es muss weitergehen. Endlich wieder Fußball.
Was war eigentlich im Sommer passiert?
Hagenberg-Scholz hatte sich in der Sommerpause in einen Drohnenrausch gesteigert. In der Drohnenszene bedeutet der Name Justin Hagenberg-Scholz etwas. Berenice unterstützte ihn zumeist. Sie führten eine, wie man so gerne sagt, ruhige Ehe. Natürlich, sie konnte jederzeit kippen. Die Lebensgemeinschaft galt es ständig zu überprüfen. In seinem Job, der Forschung, machte er Fortschritte, ohne dass es ihn weiter interessierte.
Allein die Ankündigung der Sperrung der Bornholmer Brücke bereitet ihm Kopfzerbrechen. Klar, es war der perfekte Testfall. Niemand würde seine Drohnen bemerken, und so würde er jeden Bauabschnitt nicht nur dokumentieren können, denn, er lebte nun einmal in Berlin, nachträglich auch auswerten können. Fehler, da war er sich sicher, würde er reichlich finden.
Die Umleitung jedoch, das war sein Problem, führte direkte an seiner Haustür vorbei. 10.000 Autos. Jeden Tag. Dazu die LKWs. Zwar hatte die Stadt für Flüsterbeton gesorgt. Doch dieser würde den Lärm nicht auffangen können, und das Verschwinden des Kopfsteinpflasters erinnerte ihn an die Endlichkeit der Dinge.
Doch die Bundesliga mit all ihren technischen Fortschritten blieb sein Steckenpferd. Er versprach sich viel vom FOX-Deal. Die Amerikaner mit ihrem Hang zum Datenjournalismus könnten das Spiel auf ein neues Level heben, so seine Hoffnung.
Auch in der Sommerpause hatte er die neuesten Entwicklungen verfolgt. Er hatte Kontakte knüpfen, und einige Gleichgesinnte um sich scharen können. Sie gehörten mindestens der nationalen Bel Etage der Taktikanalyse an. Einige seiner neuen Freunde hatten sogar internationales Format. Darauf war er stolz. Aber was war schon Stolz gegen die Möglichkeit, stundenlang über die Entwicklungen des Fußballsports zu philosophieren.
Manchmal graute es ihm vor dem Beginn der eigentlichen Saison. Er würde wieder auf Fans treffen. Sie waren Teil des Spiels. Aber sie verstanden wenig.
Jetzt, da der Fußball zurück war, studierte er die Fachseiten. Er verbrachte seine Stunden im Netz. Wenn auch der BVB im Vermessungszeitalter angekommen war, was ihn natürlich freute, so machten ihn die Berichte über die neuen Methoden der Dortmunder stutzig.
„Es geht nicht um die Ernährung“, sagte er. Tuchel, da war er sich sicher, würde zwar Zeit brauchen, aber alleine die Beharrlichkeit auf die richtigen Pässe zu setzen, würde bereits im frühen September zu einer anderen, einer nahezu perfekten Spielanlage führen. Obwohl er sich zur Objektivität verpflichtet füllte, war Borussia Dortmund sein Verein. Der BVB war seine Heimat, das spürte er.
Zeit war der elementare Faktor.
Auch für Dembowski, der nach einem Sommer nahe der polnischen Grenze, nach Stunden mit Koi wieder in sein natürliches Revier zurückgekehrt war.
Stundenlang spazierte er durch sein Revier. Er grüßte, und er wurde gegrüßt. Sie hatten ihn nicht vermisst, aber nun war er wieder da und er war ein Teil von ihnen. Manchmal setzte er sich vor einen Spätkauf, sah den Bauarbeitern zu und wartete. Das war sein Geheimnis. Die Dinge auf sich zukommen lassen. Irgendwer würde ihn beauftragen, und er würde die Ermittlungen aufnehmen. Nun waren es genaugenommen eher selten echte Ermittlungen, meist blieben sie im Anfangsstadium stecken, oder aber es blieb bei einigen Fragestunden, bei einigen falschen Fährten. Das war seine Natur. „Für den Ermittler des Jahres wird es gerade noch reichen“, hatte er Dörte vor seinem Aufbruch nach Berlin auf die Frage nach seinen Plänen geantwortet. Kurzum: Er erwartet wenig.
Doch genau wie Hagenberg-Scholz trieb ihn die Vorfreude auf die neue Saison um. Borussia, auch da war er sich mit Justin einig, würde Zeit benötigen. Sechs erfolgreiche Jahre unter Klopp, die bleierne Schwere der letzten Saison, die immer deutlicher zutage tretenden Risse im Verein. All das würde Zeit benötigen. Und Biere. Viele Biere.
Die hatte Hauke Schill in den Sommermonaten nicht verkaufen können. Der Laden litt unter den Hitzewelle. Hin und wieder, wenn gerade mal wieder ein Gast vorbeischaute, klagte er sein Leid, und sonst schwieg er, saß auf der Empore und blickte hinunter in den leeren Raum seiner Kneipe. Er hatte sich keinen Lebenstraum erfüllt, sondern nur auf den fortschreitenden Zerfall seiner selbst reagiert.
Wenn es zu still wurde, wenn seine Gedanken ihn zu ersticken drohten, drückte er ein paar Lieder in die Jukebox. „Ich brauche dringend neue Songs“, dachte er dann und hörte zum hundersten Mal das Lied vom Kamener Kreuz, dort links vorbei und im Radio läuft HR3. Die Schiffe und die Fische am Hafen. Danach Landungsbrücken raus.
Doch das war nicht seine Gegenwart, und nicht einmal mehr seine Vergangenheit. In Hamburg hatten sie ihn Hauke genannt, hier war er Schill, und hier war er der, der auf Baustellen schaute, die ihm sein Geschäft noch mehr versauten. An einem besonders verzweifelten Tag nahm er Berliner Weisse ins Programm. Am nächsten Tag lagen die Flasche in der Baugrube vor seiner Tür. Die wenigen Kunden hatten empfindlich reagiert.
Die Saison hatte nicht einmal begonnen, da war auch sein HSV bereits wieder die große Lachnummer der Liga. „Hört das denn nie auf?“ fragte er sich, während die Abwärtsspirale sich nach dem überraschenden Erfolg im für ihn so prestigeträchtigen Sponsorencup immer schneller zu drehen begann. Der Hamburger Boulevard zerfleischte den Dinosaurier weiterhin bei lebendigem Leib. Zum Glück war der HSV ein großes, erfahrenes Tier. Aber waren nicht alle Dinosaurier ausgestorben, würde somit nicht auch der HSV aussterben. Schill zweifelte. Noch mehr nach der Pleite im Pokal. Nichts hatte sich geändert.
Hier, denn Spielerberater Ridley Ferundula hatte sich in den letzten Wochen beinahe ausschließlich dem Geschäft gewidmet, setzt unsere Geschichte der Bundesligaspielzeit 2015/2016 ein.
Der BVB ist bereits in den Play-Offs der Europa-League, in Hamburg regiert das Chaos, Bayern München bereitet sich unter großer medialer Begleitung auf den Abgang des großen Pep Guardiolas vor, Kevin de Bruyne steht kurz vor seiner Rückkehr in die Premier League, die mit ihrer Finanzmacht die Überlegungen der Bundesliga-Bosse maßgeblich beeinflusst. Ihre Gier nach immer mehr Geld, nach immer mehr Anerkennung erntet zwar einige Proteste, aber trotzdem gelingen Transfers wie der des Hannoveraners Joselu.
In Gelsenkirchen verzweifelt Horst Heldt an Ausstiegsklauseln und Medizinchecks, doch immerhin wird ihm von allen Seiten eine perfekte Transferpolitik bescheinigt. Mit Geis ist ihm der Glücksgriff des Sommers gelungen. Olaf Thon, mittlerweile neben Huub Stevens und Ebbe Sand im Sportbeirat der Königsblauen aktiv, sieht im ehemaligen Mainzer sogar den neuen Maradona.
Kevin-Prince Boateng tingelt durch Europa. Wer wird ihm 10 Millionen bieten?
Die heimische Hertha, an dessen ehemaliger Spielstätte im Gesundbrunnen nun die von Justin so beklagten 10.000 Autos täglich vorbeibrettern, überzeugt bereits in der Vorbereitung mit alten Tugenden. Sie verschanzen sich, sie kommentieren ihre Entscheidungen nicht, und geraten im Rest des Landes bereits vor dem ersten Anpfiff in Vergessenheit. Einmal schreiben sie mit einem Trikotsponsordeal für ein paar Tage ein paar Schlagzeilen. Aber auch das ist bald vergessen. Als in Bielefeld ihr Bus von einem Motorradfahrer gezielt attackiert wird, sitzt die Mannschaft noch im Zug. Die Ermittlungen der Polizei verlaufen behäbig, und in eine eher zufällige Richtung.
Der VfB Stuttgart, hingegen, erwacht in der Sommerpause. Wenngleich es ihnen an einer Abwehr mangelt, reicht die Offensive um Kostic, Didavi und Ginczek für ein paar Träume. Mehr braucht es als Fußballfan nicht.
Nachden ersten Spielen erfahren wir auch wieder von den neuen Ausfällen der Fußballfans. Neue Attacken auf Leib und Leben. Fußballspiele sind nicht mehr sicher. So geht die Erzählung seit Jahren. In Osnabrück wird ein Pokalspiel abgebrochen, in Bielefeld eben auf den Berliner Mannschaftbus geschossen, die Berichte über Ausschreitungen häufen sich. Am Bahnhof, auf dem Stadionvorplatz, in der Stadt.
Es ist, wie so oft, die neue Qualität der Gewalt, die die Menschen erschrecken lässt. Es ist, wie so oft die mangelnde Qualität der Berichterstattung, die die Fans erschrecken lässt.
Dabei sind all diese Vorfälle nur eine weitere Variation der Verrohung der Gesellschaft. Was sich im restlichen Leben, über das wir hier soweit es nur geht den Mantel des Schweigens legen, abbildet, findet auch Einzug in den Fußball.
„Wie soll ich etwas respektieren, wenn ich keinen Respekt mehr habe?“
Das sind die ersten Worte, von Dembowski gesprochen, während die Kamera durch die Tür des Soldiner Ecks hineinzoomt. Wir sehen Schill, Hagenberg-Scholz und Dembowski gemeinsam an einem Tisch. In der Jukebox läuft türkischer Dub. Hauke Schill hatte doch noch ein paar neue Lieder besorgt. Ein fliegender Händler sie ihm auf die Nase gebunden.
Auf dem Fernseher über der Theke läuft der Sportnachrichtensender, auf dem gerade ein Reporter in Hamburg zugeschaltet ist. Er steht auf einer Wiese und deutet, denn wir hören seine Worte nicht, bedeutungsvoll in ein Gebüsch. Die Bauchbinde berichtet von einem neuerlichen Skandal in Hamburg: „#TShirtgate. Traditionsverein am Abgrund.“
Wir wissen nicht, worüber die drei Freunde reden, und als sie unsere Kamera sehen, beenden sie das Gespräch. Sie trinken Bier, sogar Justin hat sich überzeugen lassen. Es ist der Vorabend der Saison.
Hagenberg-Scholz wischt über sein Tablet. Die neuesten Prognosen sind da, und gerne würde er diese mit ihnen diskutieren. Doch nicht in diesem Jahr. Das hat er sich vorgenommen. Zu oft hatten sie ihn gedemütigt, zu oft hatte er das Ende des Abends nicht erlebt. Vielleicht kann er sie mit seinen Gedanken zu Ciro Immobile überzeugen?
Der hatte, um seinem neuen Arbeitgeber zu gefallen, in allen Einzelheiten über seine soziale Ausgrenzung während seiner Dortmunder Zeit geredet. Er hatte die taktischen Defizite Klopps offengelegt, der, davon war Hagenberg-Scholz überzeugt, nicht ohne Grund ohne Trainerposten in die neue Saison ging.
„Klopp war ein Vollgasromantiker!“
„Wasn das jetzt schon wieder, Justin. Romantik und Vollgas. Nicht gerade dein Fachgebiet“, sagt Dembowski.
„Du weißt genau, was ich meine. Frag nicht so blöd. Er war ein Proll, und um sich herum hat er eine Bande von Prolls versammelt. Aber das Internet hat ihnen die Augen geöffnet. Da sind ein paar ganze wache Kerle dabei. Die lesen Spielverlagerung, die kennen ihren Goalimpact, die sind auf der Höhe. Das war Klopp nicht mehr. Aber auch egal. Darum geht es gar nicht.“
„Worum denn?“
Schill steht auf. „Nicht schon wieder“, denkt er. Im Fernsehen sieht er immer noch den Reporter, der sich nun einer virtuellen Choreographie bewegt. Pfeile, Kreise, Ausrufezeichen. Schill dreht den Fernseher lauter, sollen Dembowski und Hagenberg-Scholz doch ihre Borussia-Kämpfe austragen.
„Macht Ihr mal, ihr habt neun Sekunden, um von den Meisterschaft zu träumen.“
Hagenberg-Scholz versteht nicht. Er träumt nicht von der Meisterschaft. Das geben die Zahlen nicht her. Dembowski versteht, und lacht.
„Ey, Justin. Worum geht es dann? Lass Dir von Schill nix erzählen. Der trägt ein Rucksack voller Probleme mit sich rum.“
Justin will jetzt nicht mehr verstehen. Er will über Immobile reden. Über die Ausgrenzung, die dieser erfahren hatte, über die Reaktion von Michael Zorc, der das alles nur noch zum Kotzen fand, und über die einiger seiner Netzbekanntschaften.
„Das ist nur noch zum Kotzen. Zorc verteidigt sein schlechtes Scouting, die Milchbubis im Netz schreien ihre Meinung in die Welt. Weil jemand Geld kostet, muss er nicht gleich funktionieren. Weil jemand Geld kostet, muss man ihn nicht ausstoßen. Er ist ein Mensch. Er möchte Teil einer Gemeinschaft sein.“
„Wir alle möchten Teil einer Gemeinschaft sein, Justin. Deswegen sind wir Fußballfans.“
„Vielleicht ist er das auch. Aber die Milchbubis kommen nicht drüber hinweg, dass es nicht funktioniert hat. Es lag nicht an Ciro. Alle Daten zeigen das. Es lag an Klopp, der ihn falsch einsetzte, der ihm die Laufwege nicht erklärte, der immer nur Vollgas geben wollte, der die Bälle lang in die Spitze wollte. Dieses Bluthundsystem hat sich überlebt. Das hat Klopp nicht verstanden. Es lag aber auch an Hummels, der mehr mit seinem Privatleben beschäftigt war, als der Mannschaft ein guter Kapitän zu sein. Frustessen, das kannste doch keinem erzählen. Ihn hat es schlichtweg nicht interessiert. Jetzt treten sie alle nach.“
„Justin? Alles klar. Was erzählst Du da? Und wieso interessiert Dich das? Wir stehen vor einer neuen Saison. Wir könnten über alles reden, aber müssen wir darüber reden?“
„Dembowski, Du hast das noch nie verstanden. Für Dich geht es nur um Bier, um Bespassung, um zynische, menschenverachtende Kommentare. Mir geht es um das Spiel. Um den Positionskampf, und was es dafür braucht. Ich habe mich weitergebildet. Und Du?“
„Naja, ich war auf der Lamafarm. Es war Sommer.“
Schill steht noch immer vor dem Fernseher. Der Reporter interviewt jetzt einige Schornsteinfeger, kurz danach gibt es eine Schalte zum Chefredakteur der Sport Bild.
„Ich halte das nicht mehr aus.“
Hagenberg-Scholz lacht.
„Am Freitag geht es nach München.“
Da spaziert Ridley Ferundula durch die Tür. Er strahlt.