Anton, Berti, Conni, Det, Edi, Fritzchen. Die Mainzelmännchen. Jeder kennt die, jeder mag die. Kein ZDF ohne Mainzelmännchen. Aber was ist mit der ARD? Die haben sowas nicht! Doch, sie hatten! Es erinnert sich nur niemand. Die hießen Ute, Schnute, Kasimir. Die mochte auch bestimmt jeder. Ich habe sie gehasst.
Als Kind hatte ich Ähnlichkeit mit Kasimir, fanden zumindest meine Mitschüler der Grundschule. Dass ich deutlich mehr Haare hatte als Kasimir, hat niemanden interessiert. Irgendjemand kam darauf, mir diesen Spitznamen zu verpassen und fortan war ich Kasimir. Auch die Mädchen nannten mich so. Kein Lehrer griff ein. Meine Eltern wussten es nicht.
Seit frühster Kindheit kämpfe ich den niemals zu gewinnenden Kampf um Anerkennung. Kasimir war nur der Anfang, aber er ist die rote Linie meines Weges. Ich stamme aus gutem Haus. Mein Vater Chefarzt im örtlichen Krankenhaus. Meine Mutter immer da, eine schöne Frau. Meine Schwester zart wie ich, aber ein Luder. Sie kannte alle Tricks. Ich kannte keine.
Ich war ein guter Schüler und das hatte in der Grundschule auch Vorteile. Ab dem ersten Tag der Klasse 5 auf dem Gymnasium sollte es mit der Ruhe vorbei sein. Die Großen erkannten in mir sofort das perfekte Opfer und schon in der ersten großen Pause flog ich in die Pissrinne. Einfach so. Die Menschen sind böse.
Ich war in der Latein-Klasse bei den Besten, die Noten immer gut. Lehrer lieben Jungs wie mich. Dafür hassten mich andere. Kaum einer traf sich mit mir am Nachmittag. Mir war langweilig. Mein bester Freund wurde der Lötkolben. Ich lötete alles: Radios, Kabel, Fernseher. Die verhassten Mitschüler, die mich eigentlich verachteten, fraßen Kreide und fragten zunehmend nach, ob sie mal mit ihren kaputten selbstgebastelten Boxen vorbeikommen könnten – den Hochtöner löten. Ich lötete alles zu ihrer Zufriedenheit, kostenlos. Ich bestellte die Ersatzteile bei Conrad, denn ich bekam Mengenrabatt. Alle wollten schnell wieder weg. Nur manchmal gelang es meiner Mutter, sie mit einem Stück Kuchen zu ködern und blieben noch eine Viertelstunde. In dieser unterhielten sie sich mit meiner Mutter. Sie war freundlich zu den Jungs, sie wusste ja nichts. Und zu mir war sie immer gut.
So ging es durch die Mittelstufe und plötzlich war ich 16 und Oberschüler. Jetzt kamen auch Mädchen dazu. Unsere Schule war ab der Oberstufe gemischt und das änderte viel. Zumindest für meine Mitschüler. Es kamen auch neue Schüler dazu, z.B. von der Realschule. Es waren auch nette dabei, einer konnte richtig gut löten und war nett. Er hatte es aber geschafft, einen der Coolen und Angesehenen zu seinem Freund zu haben und war weniger auf mich angewiesen als andersherum. Einige meiner Peiniger gingen zum Glück, sie waren zu dumm für die Oberstufe und machten nun Lehre. Der schlimmste, Uwe, wurde Tennislehrer! Er hat mich jahrelang immer geboxt, immer auf den Oberarm, einfach so. Ich hatte immer blaue Flecken. Die konnte ich aber daheim nicht zeigen. Uwe war eigentlich mein einziger regelmäßiger Besucher. Auch seiner Eltern waren wohlhabend, er war ihr einziges Kind. Uwe war noch einsamer als ich.
Ich war im Mathe-Leistungskurs und durfte mit anderen LKs die Klassenfahrt nach Prag mitmachen. Viele meines Zweit LKs Physik waren auch dabei und die hübschesten Mädchen aus dem Französisch LK. Die Reise war mein Durchbruch. Es war Ende der Achtziger Jahre nicht üblich, dass man mit guten Kameras verreiste. Ich hatte mir aber schon immer die beste Kamera gegönnt und war top ausgerüstet. Sowohl die coolen Jungs auch als die schönen Mädchen waren sehr daran interessiert, später gute Bilder zu haben. Und so war im Zentrum der Gruppe. Immer dabei, in jede verbotene Abendplanung eingeweiht. Jedes Erbrechen habe ich festgehalten, jede Knutscherei, jede Diskussion mit den linken Lehrern, die alles durchgingen ließen, selbst wenn sie ein der Jungen Union nahestehender Schnösel als „Apo-Sau“ beschimpfte.
Ich trank nichts. Ich hatte niemals Alkohol getrunken. Hier sah ich, welchen Schaden das anrichten kann. Die Schüler waren nicht mehr Herr ihrer Sinne. Aber ich verstand die Logik. Auch die Mädchen tranken viel zu viel und waren noch früher betrunken als die Jungs. Und dann knutschten sie rechts wie links. Einmal gab ich die Kamera aus der Hand und bat einen Mitschüler, ein Bild von mir Arm-in-Arm mit dem aufregenden Mädchen mit den wilden Locken zu machen. Sie war betrunken und eigentlich auch nett, also alles kein Problem. Kurz bevor er abdrückte, nahm ich noch schnell einen Flachmann in die Hand, hielt ihn an den Mund und tat, als tränke ich. Ich tat es, um nach der Reise dieses Foto herumzeigen zu können, damit andere mich cool fänden. Ich hasse mich bis heute dafür.
Ich zog das mit den Fotos durch. Ich entwickelte alle 1.938 Fotos in einer Nacht in meiner Dunkelkammer und lud die ganze Bagage zu mir nach Hause ein. Alle kamen! Die peinlichsten Bilder hatte ich aussortiert, gedankt hat mir das nie jemand. Meine Mutter machte ganz tolles Essen und ich kaufte das teuerste Bier und alle füllten die von mir vorher minuziös erstellte Tabelle mit den Nachbestellungen aus. Es waren Tausende Bilder. Ich lud wieder alle ein zum Tag der Bilderübergabe. Es kamen nicht mehr alle. Viele nahmen die Bilder für andere mit, diese würden dann später bezahlen, sagten sie. Bis heute habe nicht einmal die Hälfte des Geldes erhalten.
Die Clique war aber nun bei mir gewesen und sie waren auch in der Schule offener zu mir. Sie hatten gesehen, wie schön wir wohnten. Sie hatten die Gastfreundschaft meiner Mutter genossen, mein Fotostudio gesehen, meiner Schwester auf ihren Hintern gegafft und jeder kannte jemanden, dem mein Vater auf dem OP-Tisch des Kleinstadtkrankenhauses irgendwann mal Gutes getan hatte. Das muss sie aggressiv gemacht haben, da in der Folgezeit seltsame Dinge bei uns passierten. Zweimal stand der örtliche Pizzabote mit 12 fertigen Pizzen vor unserer Haustür. Wir hatten aber nicht eine einzige Pizza bestellt und mussten den enttäuschten Mann zurückschicken. Das war sehr unangenehm für meine Mutter. Darüber hinaus erhielt meine Mutter in meiner Abwesenheit einen Anruf von der Gema. Ich war nicht nur gut im Löten und Fotografieren, ich hatte auch stets aktuelle Filme aus der Videothek auf VHS überspielt. Der angebliche Gema-Anrufer fragte meine Mutter, ob dies stimme, denn so etwas sei ja illegal. Meine Mutter verneinte dies, packte aber noch in dieser Nacht alle Kassetten in Umzugskisten und verseckte sie in unserer Waldhütte. Sie hatte den Anruf nicht als Fake erkannt und wollte mich retten. Sie war mit den Nerven fertig. Vorwürfe hat sie mir nie gemacht.
Ich reduzierte den Kontakt zur Clique und ich glaube, sie wussten warum. Aber bald war Abitur und die Leute verteilten sich in alle Richtungen. Dann ging ich 12 Monate zur Bundeswehr und verbrachte meine allerschlimmste Zeit. Life is very long, when you’re lonely.
Dies ist meine Geschichte. Heute lebe ich in Berlin und arbeite als Forscher für Volksgesundheit am Robert-Koch-Institut. Ich bin verheiratet. Ich bin nicht glücklich. Oft bin ich traurig. Ich habe eine neue Passion entwickelt und versuche, Gesetzmäßigkeiten im Fußball zu erkennen und hieraus ein besseres taktisches Verständnis des Spiels und letztlich Handlungsempfehlungen für Trainer abzuleiten. Fußball schaue ich meist daheim mit meiner Frau, bisweilen aber auch in einer Kneipe nicht weit unserer Wohnung. Ich mag die Leute dort, aber mich behandeln sie schlecht. Sie schmeißen mich zwar nicht in die Pissrinne aber grundlos aus der Kneipe, vor allem, wenn sie betrunken sind. Das ist gemein und ich weiß nicht, was ich machen soll.
Mein Name ist Justin Hagenberg-Scholz. Ich vermesse den Fußball.
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